Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
heraus.
»Gut«, sagte Vater Kessian. »Dann esst etwas und zieht euch zurück, wie ihr es braucht. Willem und Meera werden bald bei euch sein.«
Mirrons Hände zitterten. Es war eine Mischung aus Aufregung und der Furcht vor dem Unbekannten. Mittlerweile war die ganze Autorität des Aufstiegs leise in den Garten eingetreten und hatte sich in der Nähe des Tors versammelt. Mirron hatte Mühe, sich auf ihren Teller mit dem kalten Fleisch und dem süß gewürzten Brot zu konzentrieren, während sie mit halbem Ohr zuhörte, welche Aufgaben Kessian ihren Brüdern zugedacht hatte. Eigentlich aß sie nur, weil sie die Notwendigkeit einsah, und nicht, weil sie ein echtes Bedürfnis verspürte.
Schließlich schob sie den Teller fort, stand auf und klopfte die Krümel von ihrer einfachen blauen Tunika. Sie war bereit. In der Ecke, die am weitesten vom Tor entfernt war, stand an einem sonnigen Flecken ein einzelner Orangenbaum, der das ideale Übungsobjekt war.
»Wartet noch, ehe wir uns aufteilen«, sagte Arducius. Er winkte sie alle zu sich. »Verschränkt eure Arme.«
Er hatte es schon mehrmals getan, wenn sie besonders schwierige Aufgaben erfüllen sollten. Es war sehr beruhigend.
»Vergesst nicht, wer wir sind«, sagte Arducius. »Wir sind füreinander da und werden einander unterstützen. Keiner von uns wird jemals allein sein.«
Dann trennten sie sich, und Mirron lief zu ihrem Platz. Die Sonne wärmte sie, und die Mauern des Gartens hielten die leichte Brise ab. Außerhalb des Schattens der Zweige setzte sie sich ins Gras. Hinter sich hörte sie die Schritte von Willem Geste und Meera Naravny, den Feuerläufern der Autorität. Sie blickte sich über die Schulter um und begrüßte sie mit einem Lächeln. Meera strich ihr übers Haar, und Willem hockte sich bedächtig vor ihr hin. Dabei zuckte er zusammen, weil ihm die Gelenke wehtaten. Vielleicht konnte Ossacer ihm helfen, die Ursache zu finden.
»Vergiss nicht, dass wir hier sind, um über dich zu wachen, dich anzuleiten und dich zu unterstützen. Vater Kessian wird langsam durch den Garten spazieren. Du musst dir jetzt einfach nur Zeit lassen«, sagte Willem. »Fühlst du dich wohl?«
»Ja«, sagte Mirron. »Ich bin nur etwas nervös.«
»Das ist nur zu verständlich, meine Liebe«, sagte Meera. »Mach dir deshalb keine Sorgen, es ist gut so.«
»Wo soll ich nur beginnen?« Auf einmal wurde Mirron bewusst, dass sie keine Ahnung hatte.
»Nun«, erklärte Willem, »vielleicht siehst du dir zuerst die Signatur des Baumes genau an. Bedenke aber, dass wir dir dabei nicht helfen können. Allerdings werden wir ein kleines Feuer entfachen, damit du die Signaturen vergleichen kannst. Wenn du dann deiner Sache sicher bist, kannst du die eine aus der anderen erschaffen und mit deiner eigenen Kraft verstärken. Wir werden die Signatur erkennen, sobald sie sich bildet.«
Mirron nickte. »Ich werde mich bemühen.«
»Das tust du doch immer«, sagte Meera. »Komm, Willem, lass sie eine Weile allein.«
Mirron legte die Hände auf den Boden und ließ ihren Geist mit offenen Augen wandern. Sofort spürte sie die Energiebahnen. In der Anfangszeit hatte dies eine große Anstrengung erfordert, aber jetzt konnte sie es beliebig lange tun. Sie konzentrierte sich auf die Wurzeln des Baums, die strahlend vor Leben unter ihren Füßen in der Erde pulsierten. Es war ein junger, gesunder Baum mit hellgrünen und gelben Bahnen, die sich durch den Stamm bis in die Äste zogen und erst in den Blättern, die zu Beginn des Dusas bleich wurden, grau und blass ausliefen.
Sie runzelte die Stirn. Die Signatur des Baumes war, nun ja, wie ein Baum geformt. Was sollte sie nun nach Vater Kessians Anweisungen erkennen? Sie löste sich aus ihrer Konzentration und sah sich um. Als hätte er ihre Verwirrung gespürt, kam der Vater zu ihr. Er stützte sich schwer auf seine Krückstöcke und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Shela war bei ihm und bereit, ihn zu stützen, falls er straucheln sollte.
»Du scheinst verwirrt, meine Kleine«, sagte er leicht keuchend.
»Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll. Die Energiebahnen haben die gleiche Form wie bei allen Bäumen. Wie könnten sie auch anders sein?«
»Von sich aus überhaupt nicht«, antwortete Kessian. »Nicht ohne Hilfe. Aber mir ist klar, dass du verwirrt bist. Du sollst die Unterschiede zwischen einer lebendigen Signatur wie diesem Baum und der des Feuers betrachten, das eine zerstörerische und starke, aber kurzlebige
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