Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Energie besitzt. Die Energiedichte im Zentrum der Strukturen gibt dir die besten Hinweise auf die Unterschiede. Bei einem Baum breitet sich das Herz in den ganzen Wurzeln aus. Ein Feuer hat dagegen einen sehr dichten, zerstörerischen Kern. Wenn ich Gorian richtig verstehe, musst du etwas hervorbringen, das dem Feuer ähnelt. Untersuche das Feuer, das Willem dir bringt.«
Willem kam mit einem kleinen Eisenkessel ohne Deckel, den er an den Henkeln trug. Er brauchte keinen Schutz. Trotz seiner hundertzweiundzwanzig Jahre war er immer noch unempfindlich für die Hitze. Meera hatte einen Stein mitgebracht, auf dem er den Kessel abstellte. Drinnen befanden sich glühende Kohlen und Holzscheite. Mirron nahm ihr Glücksbringer-Armband ab und steckte die Hand ins Feuer. Die wundervolle Wärme spielte auf ihrer Haut. Dann konzentrierte sie sich auf die Energie im Feuer und keuchte.
»Ich kann es sehen«, sagte sie und fragte sich, warum es ihr nicht schon vorher aufgefallen war.
»Beschreibe es mir«, sagte Vater Kessian.
»Die Energie ist gebunden, auch wenn sie willkürlich erscheint. Alle Energiebahnen beginnen an ein und demselben Punkt. Wo die Kohle und das Holz am heißesten sind, ist das Feuer ganz dunkelrot, fast wie Blut. Die Bahnen erhitzen andere Kohlenstücke, wenn sie vorbeiziehen, und diese Stücke fügen einen Teil ihrer Energie hinzu, während sie die Hitze nach außen abgeben.«
Sie wandte sich an den Vater. »So entsteht ein Kreislauf. Auch wenn das Feuer irgendwann erlischt und die Energie nach einer Weile an die Luft abgestrahlt wurde.«
»Man könnte also sagen, dass ein Feuer wächst, während es seinen Brennstoff verbraucht, bis es schließlich stirbt und erkaltet. Das unterscheidet sich nicht sehr von einem Baum, der wächst, während die Lebensenergie in seinen Wurzeln langsam verzehrt wird. Wurzeln, Äste, Blätter und sogar ganze Bäume sterben schließlich; auch sie sind irgendwann kalt und tot. Der Zyklus eines Feuers, das keine neue Nahrung findet, läuft allerdings schneller ab als der eines Baumes. Hilft dir dies, die Energie der Erde in die des Feuers zu verwandeln?«
Mirron dachte darüber nach. »Irgendwie schon … heißt das, ich muss die Energien, die ich aus dem Baum herausziehe, verdichten?«
»Ja, aber vergiss nicht, dass du ein Ziel brauchst, auf das du die Energien richten kannst. Auch ein Feuerzyklus braucht schließlich seinen Brennstoff, nicht wahr?«
Mirron verkniff es sich, mit den Worten »Aber gewiss« zu antworten, und verzichtete auch auf ein Lächeln. »Das heißt doch, ich kann die Energien nicht in mir formen, solange ich keine äußere Quelle finde.«
Vater Kessian zog die Augenbrauen hoch. »Bist du sicher? Wenn Gorian recht hat, dann kannst du möglicherweise die Energiesignatur in dir selbst aufrechterhalten und dann auf ein Ziel richten, das ihr Nahrung gibt, damit die Signatur überlebt. Verstehst du das?«
Mirron kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach. Es war vermutlich so ähnlich wie die Übertragung der Feuerenergie von einem Werkstück auf ein anderes. Allerdings gab es normalerweise im Kreislauf der Energie keine Unterbrechung. Vater Kessian sagte nun jedoch, sie könne das Feuer in ihrem Körper festhalten, ohne neuen Brennstoff zur Verfügung zu haben.
»Ich bin nicht sicher.«
»Versuche es einfach. Und mach dir keine Sorgen, wenn nichts dabei herauskommt. Wir haben alle Zeit der Welt.«
Wenn Vater Kessian bei ihr war, hatte Mirron das Gefühl, sie könnte alles erreichen. Sie strahlte ihn an, sah sein schönes, altes faltiges Gesicht und den ermutigenden Blick und war entschlossen, ihr Bestes zu geben. Also legte sie die Hände wieder auf den Boden und rief die Energiesignatur des Baums vor ihr inneres Auge. Ringsum gab es andere Spuren – die Wurzeln anderer Bäume und von Würmern und Insekten, die sie alle hätte identifizieren können, wenn sie sich darauf konzentriert hätte.
Sie öffnete sich für den Orangenbaum und verband ihre Energiebahnen mit den seinen, bis sie seine Anmut fühlte, sein zielstrebiges Wachstum und das sanft pulsierende Leben in ihm, das viel gemächlicher dahinströmte als das Blut durch ihr rasendes Herz.
Schließlich hielt Mirron inne und wartete, bis sich die Lebenslinien nach ihrem Eindringen wieder beruhigt hatten. Als Nächstes galt es, die Kraft des Baums anzuzapfen, um ein Feuer entstehen zu lassen. Dabei empfand sie ein leichtes Unbehagen. Die Gewalt des Feuers widersprach dem friedlichen
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