Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Jhered trat ein. Sein Freund wirkte, als er sich umdrehte, besorgt und nervös. Jhered gefror das Lächeln auf den Lippen, als er Vasselis’ zusammengekniffene Augen und die wenig überzeugend hochgezogenen Mundwinkel sah. Obwohl er nicht viel älter war als Jhered, wirkte er ausgemergelt. Was war nur beim Gespräch mit der Advokatin passiert?
»Hoffentlich stört es dich nicht, dass ich schon für uns beide bestellt habe. Alcarin sagte, er hätte einige neue Köstlichkeiten, die wir probieren müssen.«
Vasselis deutete einladend auf eine Liege und ließ sich selbst auf der anderen nieder. Er saß aufrecht und war offenbar zu nervös, um sich zu legen. Jhered fühlte sich wie ein Fremder, und ihm verging der Appetit, obwohl die Speisen auf dem Tisch durchaus einladend waren. So beschränkte er sich darauf, sich einen Becher Wein einzuschenken und sich wie Vasselis zu setzen, um einen Schluck zu trinken.
»Ich bin sicher, dass du wie immer klug gewählt hast«, sagte er.
»Ich bin gar nicht sicher, ob ich immer so klug bin«, antwortete Vasselis. Es war kaum mehr als ein Flüstern.
»Na schön.« Jhered fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Ich habe keine Lust, mit dir Katz und Maus zu spielen, wie ich es mit der Advokatin versucht habe. Was ist heute passiert? Wenn du es mir nicht erzählst, dann werde ich sofort gehen und das Essen hier mitnehmen.«
Vasselis starrte ihn an, und Jhered spürte, dass sein alter Freund sich überlegte, ob er ihm anvertrauen konnte, was er zu sagen hatte. Jhered dagegen vermochte sich keine noch so schwierige Angelegenheit vorzustellen, die diese Frage überhaupt aufwerfen sollte. Der Marschallverteidiger trank einen Schluck Wein. Seine Hand zitterte.
»Paul, ich habe entweder die mutigste Entscheidung meines Lebens getroffen oder den größten Fehler gemacht. Davon hängt nun das Leben fast aller ab, die mir lieb und teuer sind.«
»Das ist eine kühne Behauptung«, erwiderte Jhered nach einer längeren Pause. »Könntest du das weiter ausführen?«
»Es ist eigenartig«, erklärte Vasselis nach kurzem Nachdenken. »Ich bin in der Gewissheit, auf jeden Fall das Richtige zu tun, von Caraduk hierher gereist. Zugleich weiß ich aber, dass ich Estorr möglicherweise nicht mehr lebend verlassen werde. So fiel es mir schwer, Netta und Kovan zum Abschied ›Bis bald‹ zu sagen.
Es mangelte mir nicht an Mut, und ich begab mich mit Stolz auf meine edle Mission. Ich hatte Ansprachen und die Antworten auf alle Fragen eingeübt. Ich war überzeugt, im Interesse meiner Bürger zu handeln, und Gott möge mir in seiner Umarmung Frieden schenken, ich war und bin bereit, für sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Aber an dem Tag, als ich vor Gorns Berg stand und vor mir die Banner auf dem Hügel flattern sah, verließ mich der Mut. Jetzt sitze ich vor dir und fühle mich eher wie ein Kind, das eine Missetat zu beichten hat.«
Jhered blies die Backen auf, weil er endlich hören wollte, was Vasselis solche Sorgen machte. Auf jeden Fall empfand er Mitgefühl mit dem Mann.
»Es ist leicht, fünf Meilen vor dem Schlachtfeld mutig zu sein«, sagte er. »Das sieht anders aus, wenn du die gehobenen Piken und den Kampfgeist in den Augen der Feinde direkt vor dir siehst. Die Tatsache, dass du hier bist, verrät aber doch eigentlich genug über deinen Mut.«
»Das sagst du, ohne zu wissen, was ich dir erzählen muss.«
»Sogar auf dem Schlachtfeld habe ich vor Feinden gestanden, deren Tapferkeit ich achten musste«, sagte Jhered. »Genug der langen Worte. Vergiss nicht, dass ich dein Freund bin. Sage mir, was du sagen musst.«
Vasselis nickte und rieb sich mit einer Hand übers Kinn. Ihm war deutlich anzusehen, welche Überwindung es ihn kostete. Schließlich nickte er noch einmal und klatschte leicht die flachen Hände auf die Schenkel. Er sprach so leise, dass Jhered sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Dabei stieg ihm Duft der Speisen in die Nase.
»Paul, was ich dir sagen werde, berührt den Kern dessen, was wir sind und was wir sein wollen. Es richtet sich gegen die Lehren, die wir alle für unverletzlich halten, und zeigt doch, dass in Menschen mehr stecken kann, als wir glauben. Wir müssen nur die Augen öffnen, die Entwicklung anerkennen und die Furcht überwinden.
Vor vierzehn Jahren kamen in einem kleinen Fischerdorf in Caraduk vier Kinder zur Welt. Sie sind etwas Besonderes, etwas ganz Besonderes. Sie stellen die Zukunft der Menschheit und der Konkordanz dar.
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