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Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Barclay
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aber gleichzeitig, sich selbst zu verletzen. Mirron stand stocksteif da und bewegte stumm die Lippen.
    »Sag es mir«, knirschte Gorian drohend.
    Arducius musste Ossacer helfen. Er biss die Zähne zusammen, weil er genau wusste, welche Schmerzen er sich selbst zufügen würde, und rannte auf Gorian los. Er hörte nur noch Ossacers Schreie und sah nur noch Gorians Gesicht, der sich über das, was er dem anderen antat, zu freuen schien.
    »Lass ihn in Ruhe!«, rief Arducius.
    Gorian sah sich um und bemerkte überrascht, was da auf ihn zukam. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit zu reagieren, und als Arducius gegen ihn prallte und versuchte, die Schläge des größeren Jungen abzulenken, hörte er noch einmal Mirrons Stimme und dann endlich Vater Kessian, der Gorians Namen brüllte.
     
    Kessian barg den Kopf in den zitternden Händen. Es würde die Runde machen wie alle anderen Ausfälle bisher, und die Bürger von Westfallen würden einen weiteren Grund finden, ihre Söhne und Töchter von den Aufgestiegenen fernzuhalten. So fehlte seinen Schutzbefohlenen der Kontakt zu Gleichaltrigen, der für ihre Entwicklung so wichtig war. Die Isolation machte sich auch jetzt schon auf verschiedene Weise bemerkbar und würde eines Tages ihr ganzes Leben beeinflussen.
    Es war genau das Gegenteil von dem, was Kessian eigentlich erreichen wollte. Ein herber Rückschlag für den Versuch, die Aufgestiegenen im Alltagsleben der Welt zu verankern. Wenn sie nicht in der Gemeinde akzeptiert wurden, deren Bewohner sie am besten verstanden, dann gab es nicht mehr viel Hoffnung.
    Es war ein Widerspruch, den sie einfach nicht auflösen konnten. Um Gorians Verhalten zu ändern, war die Konfrontation mit anderen jungen Menschen nötig. Dabei würden er und die übrigen Aufgestiegenen durch ihre Erfahrungen begreifen, dass es Grenzen gab … und auch, welch riesige Verantwortung sie trugen. Sie mussten lernen, sich und die Kräfte, die in ihnen schlummerten, zu beherrschen. Andererseits konnte Kessian den Eltern in Westfallen ihre Haltung nicht verübeln. Sie hatten eben Angst um ihre Kinder.
    Zwei Jahre, nachdem die Einwohner von Westfallen die Verkündigung mit einem rauschenden Fest aufgenommen hatten, war die Stimmung in der Stadt fast ins Gegenteil umgeschlagen. Zwar wurde die Autorität des Aufstiegs nach wie vor geachtet, die Bürger beteiligten sich weiter am Programm und stellten sich freiwillig als Väter und Mütter zur Verfügung, doch wenn sie die offensichtlichen Resultate sahen, bekamen sie Angst.
    Kessian schüttelte den Kopf. Ihre Fähigkeiten entsprachen genau den Vorhersagen. Ein Unglück nur, dass die Realität viel schwerer zu akzeptieren war als die Theorie. Genna, erst unlängst von einer Krankheit genesen, die sie beinahe das Leben gekostet hätte, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie war noch geschwächt. Wenn Ossacer nicht die Infektionsherde gefunden hätte, dann hätte sie es überhaupt nicht überlebt. Eine Ruhmestat der Aufgestiegenen.
    Kessian nahm die Hände vom Gesicht und lächelte sie an.
    »Du willst mir jetzt doch nicht sagen, ich dürfe nicht immer alles in düsteren Farben malen, oder?«
    »Immerhin lebe ich noch, weil es sie gibt«, erwiderte sie.
    Die Autorität hatte sich im zentralen Empfangszimmer der Villa versammelt. Hinter Kessians Stuhl toste der Abzug eines Hypokaustums. Die Wärme schenkte ihm eine gewisse Behaglichkeit. Die einfachen Freuden des Lebens, und davon schien es dieser Tage nur wenige zu geben. Jeder Tag war ein schwerer Kampf. Nicht nur, weil jetzt Dusas war. Seine Beine taten weh, und er war schrecklich kurzatmig geworden. Inzwischen konnte er kaum noch schreiben, weil seine Hände zu sehr zitterten. Er war alt, er war dem Tode nahe. Eigentlich hätte er sich auf seine bevorstehende Rückkehr in Gottes Arme freuen müssen, aber von Freude konnte keine Rede sein. Er konnte die Autorität und Westfallen nicht im Stich lassen, ohne Lösungen für die derzeitigen Schwierigkeiten gefunden zu haben.
    »Ardol?« Es war Genna.
    Kessian fuhr hoch. »Was? Oh, entschuldige. Ich fürchte, mein alter Geist will nicht bei der Sache bleiben.«
    »Wir müssen es nicht heute Abend tun«, sagte Hesther Naravny. »Es war ein langer Tag.«
    »Es ist doch sinnlos, jetzt ins Bett zu gehen, da wir doch nur wach liegen würden«, erwiderte Meera, die neben ihrer Schwester saß. Sie war schwanger und wirkte viel müder und erschöpfter, als Kessian sich fühlte. Es stand zu hoffen, dass sie, Jen Shalke und

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