Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
die Kräfte vor, die unter der Erde brodelten, zischten und spuckten und immer schneller und stärker wurden. Wie ein Bohrer fraßen sie sich zu den schlafenden tiefen Energien der Bäume vor.
Immer noch näherten sich die Tsardonier. Sie konnten nicht erkennen, was auf sie zuraste. Die Bogenschützen kamen sogar im Laufschritt, dann blieben die ersten stehen, steckten Pfeile vor sich in den Boden und spannten die Sehnen. Die anderen Krieger rannten weiter.
»Runter«, sagte Jhered. Er hörte das Flüstern der Pfeile und die Einschläge. Alle waren zu kurz gezielt. »Nun macht schon, Kinder. Enttäuscht mich nicht.«
Die Aufgestiegenen hörten es nicht. Sie waren in ihrer Welt der Energiebahnen, Lebenslinien und der Manipulation von Gottes Erde versunken. Allmählich traten ringsum auch die Folgen dieser Manipulation zutage. Der tote Kreis rings um die Aufgestiegenen wuchs immer schneller, er durchmaß jetzt beinahe zehn Schritte, und die Erde trocknete aus und bekam Risse.
Wieder hagelte es Pfeile. Die Rufe der tsardonischen Bogenschützen übertönten inzwischen den Lärm der anrückenden Armee. Er duckte sich noch tiefer. Ein Pfeil flog an seinem Kopf vorbei und blieb hinter ihm in der toten Erde stecken. Zwei weitere prallten gegen den Schild. Kovan zuckte zusammen, als er den Aufprall abfing. Menas regte sich.
»Schon gut, Junge. Vertrau nur deinen Freunden.«
Wieder blickte er zu den Aufgestiegenen und wünschte sich, sie würden sich beeilen. Sie hatten keine Zeit mehr, sie waren in Reichweite der Bogenschützen. Bald würden die Feinde noch genauer zielen, und die Schilde würden nichts mehr nützen.
»Noch mehr«, flüsterte Gorian. Seine Stimme klang verändert, als hätte ein alter Mann gesprochen.
Mirron stöhnte, Arducius sagte etwas, das Jhered nicht verstand. Allerdings sah er, wie ihre Arme vor Anstrengung zitterten. Die Hände hatten sie fest auf den Boden gepresst. Jhered sah genauer hin. Das Gras, die Erde, die Wurzeln, es wuchs über ihren Händen zusammen, und ihre Haut bekam grüne und braune Muster wie von Tätowierungen, die sich rasch ausbreiteten. Er schauderte, auf einmal wurde ihm übel.
Dann ertönte ein einzelner lauter Knall, der im ganzen Tal zu hören war. Die tsardonischen Bogenschützen verstummten. Jhered drehte sich widerstrebend um und spähte über die Schilde hinweg. Links rutschte etwas Geröll von der Hochebene den Hang herunter. Hundert Schritte entfernt gerieten die Äste eines Baums in heftige Bewegung.
Das war alles. Jhered starrte die winzige Staubwolke an, die da drüben aufstieg. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Die tsardonischen Bogenschützen kümmerten sich nicht um die Linien, die von den toten Pflanzen geschaffen wurden, und legten neue Pfeile ein.
»Noch mehr«, sagte Gorian. »Setzt nach, das Tor ist geöffnet.«
Der Kreis des schwarzen Grases breitete sich schneller aus, als Jhered mit Blicken folgen konnte. Ein tiefes Grollen ertönte, dann folgte ein einzelnes leichtes Beben.
»Jetzt«, sagte Arducius.
Abermals strömte die Energie hinaus. Die steilen Hänge der Hochebenen erwachten abrupt zum Leben. Bäume schossen aus der Erde empor, auffrischen Zweigen bildeten sich Knospen, die Blätter sprossen dicht auf Ästen und Zweigen. Wurzeln, wundervolle Wurzeln bohrten sich tief und unaufhaltsam in die Erde hinein und suchten nach Halt und Nahrung.
Auf beiden Hängen des Tals, in dem die Tsardonier marschierten, zeigten sich nun die dunkelgrünen Farben eines Wachstums, das man eher im Genasauf zu sehen erwartet hätte. Es breitete sich rasch aus, weiter, als Jhered blicken konnte. Er lächelte. Die Wurzeln drangen in jede Spalte und jeden Riss vor, erforschten jede Schwache im Fels und waren schneller als ein Blitz.
Wieder hallte es wie mehrfacher Donner über die Ebene, und die Erde bebte leicht. Jhered glaubte sogar, die ganze südliche Hochebene wackeln zu sehen. Neue Risse entstanden, tiefer und schärfer begrenzt. Auf den Hängen splitterte der Fels, Steine regneten auf den Talboden herab, wo die tsardonische Armee zögerte. Jetzt beobachteten alle wie gebannt das unheimliche Geschehen ringsum.
Immer noch wuchsen die Bäume, bis sie groß und mächtig waren, dicke Stämme hatten und sich mit ausladenden Ästen zum Himmel reckten. Dieses Mal war Jhered sicher, das Beben nicht nur gespürt, sondern auch gesehen zu haben. Unwillkürlich wich er zurück.
»Guter Gott, der uns umfängt«, keuchte er. »Das geht so tief.«
Die Wurzeln
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