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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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schneiden?« – »Kann ich ihren Hut haben?«
    Ich lachte über alle davon und tat so, als wollte ich den Kopf mitten unter sie werfen, als jemand an meinem Fuß zerrte. Es war Eusebia, der ich ansah, noch ehe ein Wort über ihre Lippen kam, daß sie unter jenem Redezwang stand, ich oft bei den Klienten in unserem Turm beobachtet hatte. Ihre Augen funkelten erregt, und ihre Miene war verzerrt, so strengte sie sich an, meine Aufmerksamkeit zu erlangen, was sie gleichzeitig älter und jünger als zuvor wirken ließ. Da ich nicht verstand, was sie rief, beugte ich mich zu ihr.
    »Unschuldig! Sie war unschuldig!«
    Es war nicht der geeignete Zeitpunkt zu erklären, daß ich nicht Morwennas Richter gewesen sei. Ich nickte nur.
    »Sie hat mir Stachys genommen! Jetzt ist sie tot. Verstehst du? Sie war doch unschuldig, aber wie bin ich froh!«
    Ich nickte abermals und schritt wieder eine Runde übers Schafott, den Kopf in die Höhe haltend.
    »Ich habe sie getötet!« kreischte Eusebia. »Nicht du …«
    »Wenn du meinst«, rief ich zu ihr hinab.
    »Unschuldig! Ich hab’ sie gekannt – so sorgsam. Sie hätte sich etwas aufgespart – Gift für sich selbst. Sie wäre in den Tod gegangen, ehe ihr sie hättet ergreifen können.«
    Hethor packte sie am Arm und deutete auf mich. »Mein Herr und Meister! Meiner!«
    »Also war’s jemand anders. Oder vielleicht doch eine Krankheit …«
    Ich rief: »Allein in der Hand des Demiurgen liegt alle Gerechtigkeit!« Die Leute krakeelten immer noch, obschon ich sie inzwischen zumindest ein wenig hatte besänftigen können.
    »Aber sie hat mir Stachys gestohlen, und nun ist sie hinüber.« Dann lauter denn je: »O wie wunderbar! Es ist aus mit ihr!« Daraufhin tauchte Eusebia ihr Gesicht in das Bukett, als wollte sie ihre Lungen bis zum Platzen mit dem widerlichen Rosenduft füllen. Ich ließ Morwennas Haupt in den dafür vorgesehenen Korb fallen und wischte meine Schwertklinge mit dem roten Flanelltuch, das Jonas mir reichte, sauber. Als ich wieder zu Eusebia blickte, lag sie leblos in einem Kreis von Schaulustigen auf dem Boden ausgestreckt.
    Zunächst machte ich mir darüber keine Gedanken, weil ich vermutete, daß in ihrem großen Freudestaumel das Herz versagt hatte. Später an diesem Nachmittag ließ der Alkalde das Bukett vom Apotheker untersuchen, der in den Blüten ein starkes, tückisches Gift feststellte, das ihm unbekannt war. Morwenna muß es, wie ich vermute, beim Besteigen des Blutgerüsts in der Hand gehalten und es bei unserem Rundgang nach der Brandmarkung in die Blumen gestreut haben.
     
    Es sei mir gestattet, hier innezuhalten und gleichsam von Geist zu Geist etwas zu sagen, obschon uns vielleicht die Abgründe von Äonen trennen. Was ich bis jetzt niedergeschrieben habe – vom versperrten Tor bis zum Jahrmarkt zu Saltus –, umfaßt den Großteil meines erwachsenen Lebens, denn was noch zu berichten bleibt, betrifft nur ein paar Monate, dennoch glaube ich, in meiner Erzählung noch nicht einmal bis zur Hälfte gelangt zu sein. Damit sie keine so große Bibliothek wie die des alten Ultan fülle, werde ich (daraus mache ich kein Hehl) vieles überspringen. Die Hinrichtung von Agias Zwillingsbruder Agilus habe ich geschildert, weil sie für meine Geschichte bedeutsam ist; die Hinrichtung von Morwenna aufgrund der damit einhergehenden ungewöhnlichen Umstände. Andere Hinrichtungen indes werde ich nur wiedergeben, wenn sie von besonderer Wichtigkeit sind. Wenn dich also das Leiden und Sterben anderer ergötzt, wirst du bei mir wenig Befriedigung finden. Es soll genügen zu sagen, daß ich den Viehdieb den angeordneten Anwendungen unterzogen habe, welche mit seiner Enthauptung schließlich erfüllt gewesen sind. In der Beschreibung meiner künftigen Reisen ist davon auszugehen, daß ich das Mysterium unserer Zunft praktiziert habe, wo immer mir das einträglich erschienen ist, auch wenn ich diese Geschäfte im einzelnen nicht aufführe.
     

 
V
 
Der Bach
     
    An diesem Abend speisten Jonas und ich allein in unserem Zimmer. Es ist eine Wonne, wie ich festgestellt habe, allseits beliebt und bekannt zu sein; es ist aber auch beschwerlich, und man wird es müde, immer die gleichen einfältigen Fragen zu beantworten und die Einladungen zum Trinken höflichst abzulehnen.
    Es war zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit dem Alkalden bezüglich des Entgelts für meine Arbeit gekommen, da ich der Meinung war, daß ich neben dem angezahlten Viertel zu Beginn meiner

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