Die Kleinbürger (German Edition)
ist von ihrer Mutter, wie Sie wissen, erzogen worden, und man hat ihr nicht das Gesicht der echten Frömmigkeit gezeigt, sondern nur ihre Larve; die reuigen Magdalenen von der Art der Frau Colleville tun immer so, als ob sie sich in Gesellschaft eines Totenkopfs in die Wüste zurückziehen wollten. Sie glauben, daß man um einen billigeren Preis nicht selig werden könne. Aber was hatte Celeste schließlich von Herrn Felix verlangt? Daß er die ›Imitatio Christi‹ lesen solle.«
»Er hat sie gelesen, gnädige Frau,« entgegnete Phellion; »und er hat erklärt, daß es ein sehr gut geschriebenes Buch sei; aber seine Überzeugung ist unglücklicherweise durch diese Lektüre nicht im geringsten erschüttert worden.«
»Und halten Sie es für klug, daß er seiner Geliebten auch nicht das kleinste Zugeständnis in bezug auf die Unbeugsamkeit seiner Überzeugung machen kann?«
»Mein Sohn, gnädige Frau, hat von mir niemals eine Unterweisung in solcher Klugheit empfangen; Rechtschaffenheit und Geradheit, das sind die Grundsätze, die ich versucht habe, ihm einzuimpfen.«
»Mir scheint aber doch, mein Herr, daß man rechtschaffen handelt, auch wenn man ein wenig Rücksicht auf eine kranke Seele nimmt und es vermeidet, sie zu verletzen; aber gut, nehmen wir an, daß Herr Felix es sich schuldig zu sein glaubte, eine starre Mauer zu sein, an der alle flehenden Bitten Celestes zerschellen mußten. War das ein Grund, daß er nach dieser Szene, die nicht die erste derartige war und die den Charakter eines Bruchs an sich trug, wo er die Gelegenheit hatte, mit ihr in Brigittes Salon, auf neutralem Gebiet, zusammenzutreffen, sich vierzehn Tage lang in seinem Zelte verborgen hielt? Und daß er diesem Schmollen dadurch noch die Krone aufsetzte, daß er durch ein Verhalten, das ich nicht verstehe, und von dem wir eben erst gehört haben, Celestes Gefühle in Verzweiflung und in die heftigste Erregung versetzt hat?«
»Mein Sohn sollte eines solchen Verhaltens fähig sein? Das ist unmöglich, gnädige Frau!« rief Phellion. »Ich weiß nicht, was er getan hat; aber ich stehe nicht an, zu erklären, daß Sie vollkommen falsch informiert sein müssen.«
»Und doch verhält es sich durchaus so. Der junge Colleville, der heute seinen Ausgehtag hat, erzählte uns eben, daß Herr Felix, der früher mit äußerster Promptheit einen Tag um den andern ihm Nachhilfestunden gab, seit mehr als einer Woche sich überhaupt nicht mehr um ihn gekümmert hat. Falls Ihr Herr Sohn nicht leidend sein sollte, so stehe ich nicht an, zu erklären, daß dieses Fernbleiben der Gipfel der Unklugheit ist. Bei dem Verhältnis zu seiner Schwester hätte er dem Bruder zweimal täglich Stunden geben müssen, anstatt gerade in diesem Moment seine Hilfe zu verweigern.«
Beide Phellions sahen sich an, als ob sie einander befragen wollten, was darauf zu antworten sei.
»Mein Sohn, gnädige Frau,« sagte Frau Phellion, »ist nicht gerade krank; aber da Sie uns auf die Spur führen, indem Sie uns dieses, wie ich zugebe, sehr merkwürdige Verhalten mitteilen, das seinen sonstigen Gewohnheiten und Charaktereigenschaften so meilenfern liegt, muß ich Ihnen gestehen, daß seit dem Tage, an dem Celeste ihm anscheinend erklärt hat, daß alles zwischen ihnen zu Ende sei, in Felix' Inneren etwas Seltsames vorgehen muß; Phellion und ich sind darüber sehr beunruhigt.«
»Ja, gnädige Frau,« sagte Phellion, »der junge Mensch ist ganz wie umgewandelt.«
»Aber was ist denn vorgefallen?« fragte die Gräfin teilnahmsvoll.
»Als mein Sohn,« sagte Phellion, »nach dieser Szene abends heimkehrte, hat er am Busen seiner Mutter heiße Tränen vergossen und uns erklärt, daß es um das Glück seines Lebens geschehen sei.«
»Soweit«, sagte Frau von Godollo, »sehe ich darin nichts Ungewöhnliches; Liebende sehen die Dinge immer von der schlimmsten Seite an.«
»Gewiß,« sagte Frau Phellion; »aber daß Felix von diesem Augenblick an auch nicht die geringste Anspielung mehr auf sein Unglück gemacht, und daß er vom nächsten Tage an sich wie wahnsinnig auf seine Arbeiten gestürzt hat, erscheint Ihnen das auch nicht ungewöhnlich?«
»Auch das läßt sich noch erklären: Arbeit ist ein großer Trost.«
»Das ist durchaus wahr«, sagte Phellion; »aber Felix zeigt in seinem Gebaren eine Aufgeregtheit und gleichzeitig eine Versonnenheit, die Sie sich kaum vorstellen könnten. Man spricht mit ihm, und er scheint einen gar nicht zu verstehen; er setzt sich zu Tisch und
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