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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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ganzes Gesicht bis zum Hals. »Wenn Sie sagen wollen, daß ich getrunken habe ... «
    »Nur Tee«, sagte ich. »Und nur geraucht.«
    Ich wandte mich ab. Er war still. Als ich den Lift erreicht hatte, schaute ich zurück. Er stand da, die Arme aufgestützt, den Hals verbogen, um mir nachzusehen. Sogar aus dieser Entfernung schien er zu zittern.
    Der Lift war mit Selbstbedienung. Der vierte Stock war ein kaltes Grau, dicker Teppich.
    Ein kleiner Klingelknopf war neben Apartment 412. Drinnen läutete es glockenartig.
    Sofort wurde die Tür aufgemacht. Ihre herrlichen tiefen Augen sahen mich an, und der dunkelrote Mund lächelte mich an. Schwarze Hosen und das feuerfarbene Hemd, genau wie gestern abend.
    »Amigo«, sagte sie weich. Sie streckte ihre Arme aus. Ich griff nach ihren Handgelenken, bog sie zusammen und ließ die Handflächen sich berühren. Einen Augenblick machte ich Backe-backe-Kuchen damit. Der Ausdruck ihrer Augen war feurig und sehnsüchtig zugleich.
    Ich ließ ihre Handgelenke los, schloß die Tür mit meinem Ellbogen und schlüpfte an ihr vorbei. Es war wie beim erstenmal.
    »Sie müßten sie versichern lassen«, sagte ich, und berührte eine davon. Sie war ganz schön konkret. Die Brustwarze so hart wie Rubin.
    Sie brach in ihr lustiges Lachen aus. Ich ging weiter und sah mir alles an. Es war französisch grau und staubblau. Nicht ihre Farben, aber sehr nett. Einen nachgemachten Kamin gab es, ausreichend Tische und Stühle und Lampen, aber nicht zu viele. In der Ecke war ein kleines, hübsches Kühlfach.
    »Magst du mein kleines Apartment, Amigo?«
    »Sagen Sie nicht kleines Apartment. Das klingt auch wieder nach Nutte.«
    Ich sah sie nicht an. Ich wollte sie nicht ansehen. Ich setzte mich auf eine Couch und rieb mit der Hand über meine Stirn.
    »Vier Stunden Schlaf und ein paar Drinks«, sagte ich. »Mehr brauchte ich nicht, um Ihnen wieder Unsinn zu erzählen. Zur Zeit habe ich kaum die Kraft, was Vernünftiges zu sagen. Aber ich muß.« ;
    Sie kam her und setzte sich nahe zu mir. Ich schüttelte den Kopf. »Dort rüber bitte. Ich muß wirklich vernünftig reden.«
    Sie setzte sich gegenüber und sah mich an, mit ernsten, dunklen Augen. »Aber bitte, Amigo, wie Sie es wünschen. Ich bin Ihr Mädchen, wenigstens wäre ich es gern.«
    »Wo haben Sie in Cleveland gelebt?«
    »In Cleveland?« Ihre Stimme war sehr weich, fast zärtlich. »Habe ich gesagt, daß ich in Cleveland gelebt habe?«
    »Sie haben gesagt, Sie haben ihn dort gekannt.«
    Sie dachte nach und nickte. »Ich war damals verheiratet, Amigo. Was ist denn los?«
    »Sie haben also wirklich damals in Cleveland gelebt?«
    »Ja«, sagte sie sanft.
    »Und Steelgrave haben Sie wie kennengelernt?«
    »Damals war es einfach so: es war schick, einen Gangster zu kennen. Wohl eine Art umgekehrter Snobismus. Man besuchte die Lokale, wo die angeblich hingingen, und wenn man Glück hatte, eines Abends vielleicht ... «
    »Sie haben sich von ihm mitnehmen lassen.«
    Sie nickte kräftig. »Sagen wir lieber: ich nahm ihn mit. Er war ein sehr netter, kleiner Mann. Wirklich.«
    »Und was war mit dem Ehemann? Ihrem Ehemann? Oder wissen Sie nicht mehr?«
    Sie lächelte. »Die Straßen dieser Welt sind gepflastert mit abgelegten Ehemännern«, sagte sie.
    »Die reine Wahrheit, nicht wahr? Man trifft sie überall. Sogar in Bay City.«
    Damit erreichte ich nichts. Sie zuckte höflich die Achseln. »Wird schon stimmen.«
    »Vielleicht ist er sogar ein Absolvent der Sorbonne. Vielleicht dämmert er sogar in einer miesen Kleinstadtpraxis dahin. Wartet und hofft. So einen Zufall möchte ich richtig auskosten. Er hat was Poetisches.«
    Das höfliche Lächeln blieb unverändert auf ihrem schönen Gesicht.
    »Wir haben uns auseinandergelebt«, sagte sie. »Weit auseinander. Und dabei haben wir uns eine Zeitlang so gut vertragen.«
    Ich blickte auf meine Finger. Mein Kopf tat mir weh. Ich war noch nicht mal vierzig Prozent auf der Höhe. Sie reichte mir eine Zigarettendose aus Kristall, und ich nahm mir eine. Sie klemmte sich eine in den goldenen Halter. Sie nahm sie aus einer anderen Schachtel.
    »Ich möchte gern eine von Ihren probieren«, sagte ich.
    »Aber mexikanischer Tabak ist den meisten zu stark.«
    »Wenn es nur Tabak ist«, sagte ich und beobachtete sie. Ich gab mir einen Ruck.
    »Nein. Sie haben recht. Es würde mir nicht schmecken.«
    »Was bedeutet wohl diese kleine Nebenhandlung?« fragte sie vorsichtig.
    »Der Kerl am Empfang raucht Gras.«
    Sie nickte

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