Die kleinen Freuden des Lebens
Zweckgemeinschaft auf Zeit, während Vereinsmannschaften wirklich leben, auch außerhalb von Welt- und Europameisterschaften.
Echte Fußballfans, die selbst an bitterkalten Novembertagen in den Kurven stehen, waren eher genervt von der W M-Euphorie . Vielleicht verachteten sie diese Instant-Fans auch, oder sie bewunderten sie heimlich, so wie heftige Raucher jene Partyraucher
bewundern, die an einem Abend ein Päckchen rauchen können und dann monatelang nichts mehr.
Es geht nicht so sehr um das Gefühl der Stärke, sondern vielmehr um das Gefühl, irgendwohin zu gehören – einer dieser raren
Momente, in welchen man weiß, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Man spürt: Es gäbe keinen Ort, an dem man jetzt
glücklicher wäre.
Nur einmal noch hatte ich dieses Gefühl der ganz besonderenGruppendynamik bei einer italienischen Hochzeit, die nicht nur während einer Fußball-WM, sondern just während eines Italien-Spiels
stattfand. Das war eine dramatische Koinzidenz; mein Schwager schleppte sogar ein Kopfhörer-Radio mit in die Kirche, aber
das nützte auch nicht mehr viel: Nach und nach drängte es die meisten Männer aus der Kirche, obwohl die Zeremonie in vollem
Gange und das Ja-Wort noch längst nicht gefallen war. Auf dem Kirchplatz standen wir dann eine Weile unschlüssig herum, mehr
als zwanzig hervorragend angezogene Menschen und ich, und dann sahen wir eine kleine Bar gegenüber, wo das Spiel natürlich
übertragen wurde. Wir liefen also in diese winzige Bar und wurden von den paar Gästen sehr seltsam beäugt, aber dann waren
wir sofort ein Teil der Stimmung, beziehungsweise machten sie uns selbst. Wir bestellten zwanzig
caffè
und ein Bier (Sie ahnen, für wen), schauten die letzten zwanzig Minuten an, Italien gewann auch noch 1:0, schafften es rechtzeitig
zum Auszug des Brautpaars zurück, und die Welt war gut.
Den Abwasch erledigt haben
S pülmaschine? Als temporärer Single? Ich bitte Sie. Und hopp, mit welligen Fingerkuppen zurück auf die Couch.
Fußball mit Freunden gucken
I n frühen Management-Lehrbüchern aus den Siebzigerjahren sind Konferenztische oft mit Tieren besetzt, um das hervorstechende
Verhalten der Manager zu illustrieren. Da gibt es den dominanten Löwen, das einfältige Schaf, den neunmalklugen Uhu, den eitlen
Pfau, den listigen Fuchs. Unter der Zeichnung steht, wie man jeden zu behandeln hat, um seine eigenen Vorschläge durchzusetzen.
»Schmeicheln Sie dem Löwen«, »Lassen Sie sich nicht vom Fuchs in die Falle locken«, »Verzetteln Sie sich nicht in Detaildebatten
mit dem Uhu« und so weiter.
Die Fußballrunde mit meinen Freunden ist einfacher zu skizzieren. Sie gleicht eher einem Rudel Brüllaffen. Und als einzige
Verhaltensmaßregel gilt: Mach bloß deine Hausaufgaben. Bei uns ist es nämlich nicht so, dass wir die Spieler oder die Trainer
beschimpfen. Es ist vielmehr so, dass wir uns gegenseitig beschimpfen. Wir werfen uns obskurste Dinge an den Kopf und nutzen
jede Schwäche, die wir beim anderen entdecken, gnadenlos aus. Wir sind alles ziemliche Freaks in Sachen Fußballfakten, und
Fehler darf man sich einfach nicht erlauben. Ich zum Beispiel muss mir seit zwei Jahren anhören, dass ich denNamen Kenny Dalglish nicht sofort dem FC Liverpool zuordnen konnte. Tim muss sich seit sechs Monaten anhören, dass er George
Best als Engländer bezeichnet hat. Und ein anderer Stefan wollte ernsthaft dagegenwetten, dass Berti Vogts schon 1970 bei
der WM dabei war (korrekt ist lediglich, dass er 1970 eine andere Rückennummer trug als 1974). Sie sehen: In unserer Runde
herrscht eine gnadenlose Darwin’sche Selektion. Nur die Stärksten überleben. Die Schwächsten müssen Chips nachfüllen.
Doch dieses für Außenstehende so lächerliche Rumgezanke über Ergebnisse fünfzehn Jahre alter E M-Qualifikationsspiele hat einen kathartischen Charakter. Unter der Woche, wenn wir uns nicht sehen, quellen wir über, weil wir vielleicht auf einer
obskuren Internetseite wieder etwas entdeckt haben, was wir den anderen unbedingt mitteilen müssen, etwa eine so wichtige
Information wie die über den Verbleib Torsten Legats, den aktuellen Beratervertrag Peter Neururers oder die neue Trainerstation
Hans-Peter Briegels. Niemandem sonst können wir diese Perlen des Wissens mitteilen – und wenn wir uns dann sehen, dann platzt
es praktisch ohne eigenes Zutun aus uns heraus. Nach zwei Stunden hitzigen Diskutierens sind wir erschöpft wie
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