Die Klinik
Operation konnten wir nur die Schmerzen seiner letzten Tage erleichtern. Weil irgendein Biest zu faul war, die Anordnungen zu lesen, bekam er zu seinem Todesurteil noch zusätzlich zwei Tage Qual.«
Miss Fultz nickte zustimmend. »Als ich angefangen habe, hätten wir sie als Schwester erst gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Sie ist eine Kuh.«
»Warum verteidigen Sie sie dann?«
»Schwesternmangel – wir brauchen jede Kuh, die wir behalten können. Wenn der Verweis durchgeht, wird sie den Dienst quittieren und hat in einer halben Stunde einen anderen Posten. Man wird sich um sie streiten.«
Er starrte auf das Papier in seiner Hand.
»Es hat Abende gegeben, an denen ich in dieser Abteilung ganz allein war«, sagte sie leise. »Bisher hatten wir Glück. Noch hat uns kein Notfall bei zu knappem Personal erwischt. Verlassen wir uns nicht auf unser Glück. Die Kuh hat ein Paar Hände und ein Paar Beine. Verweigern Sie meinen echten Schwestern nicht die Verwendung dieser Hände und Beine.«
Er riß das Papier zweimal durch und ließ die Fetzen in den Papierkorb fallen.
»Danke«, sagte Helen Fultz. »Ich werde dafür sorgen, daß sie von jetzt an jede Tabelle liest, bevor sie die Mahlzeiten serviert.« Sie lächelte ihn an.
»Helen«, sagte er, »wie würde dieses Haus ohne Sie funktionieren?«
»Wie immer«, sagte sie.
»Sie hetzen sich zu sehr ab. Sie sind nicht mehr sechzehn.«
»Nicht sehr galant heute, was, Doktor?«
»Wie alt sind Sie? Im Ernst?«
»Wozu, was würde das ändern?« sagte sie.
Sie war dem Pensionsalter zu nahe, um darüber sprechen zu wollen, erkannte er. »Es ist nur, weil Sie müde aussehen«, sagte er sanft.
Sie schnitt eine Grimasse. »Alter hat damit nichts zu tun. Ich glaube, daß ich vielleicht ein Geschwür bekomme.«
Er sah sie plötzlich nicht als Helen Fultz, sondern als erschöpfte alte Dame, die Patientin war.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe genug Geschwüre gepflegt, um die Symptome zu kennen. Ich kann vieles nicht mehr essen, was ich früher vertragen habe. Und ich habe leichte rektale Blutungen.«
»Los mit Ihnen ins Untersuchungszimmer«, sagte er.
»Ich will nicht.«
»Schauen Sie, wenn Dr. Longwood routinemäßige Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätte, wäre er heute ein gesunder Mann. Nur weil Sie Schwester sind, entbindet Sie das nicht der Verantwortung gegen sich selbst. Ab ins Untersuchungszimmer. Das ist ein dienstlicher Befehl.«
Er grinste, als er ihr in das Zimmer folgte, weil er wußte, daß sie wütend auf ihn war.
Sie war nicht leicht zu untersuchen, aber das Ergebnis brachte keine Überraschungen. Sie litt an zu hohem Blutdruck, 190 zu 90. »Haben Sie je Brustschmerzen gehabt?« fragte er, ihr Herz abhorchend.
»Ich kenne dieses basilare systolische Gemurmel seit neun Jahren«, sagte sie schroff. »Wie Sie schon andeuteten, bin ich nicht mehr sechzehn.«
Während der Rektaluntersuchung, die sie in gedemütigtem Schweigen über sich ergehen ließ, sah er, daß sie Hämorrhoiden hatte, zweifellos die Ursache der Blutung.
»Na?« fragte sie, als sie angekleidet und ihre Würde wieder hergestellt war.
»Sie dürften eine ziemlich gute Diagnostikerin sein«, sagte er. »Meine Vermutung wäre ein Zwölffingerdarmgeschwür. Aber ich werde Ihnen einen Termin für eine gastro-intestinale Untersuchungsreihe festsetzen lassen.«
»Ah, soviel Schererei.« Sie schüttelte den Kopf, unfähig, ihm zu danken, aber dann lächelte sie ihn an. »Ich habe mich gestern abend sehr gut unterhalten, Dr. Meomartino. Ihre Frau ist sehr schön.«
»Ja«, sagte er. Unerklärlicherweise spürte er zum erstenmal seit Guillermos Tod hinter seinen Augenlidern ein scharfes, salziges Brennen, das er ignorierte, bis es, wie alles sonst, verging.
14
SPURGEO N ROBINSON
Nach der Übersiedlung Adams in die Wohnung am Beacon Hill blieb Spurgeon ganz allein und einsam im sechsten Stock zurück und begann den alten Wänden immer häufiger auf der Gitarre vorzuspielen; seine Musik war wie der Spiegel eines Lachkabinetts, der das Spiegelbild seiner Seele verzerrte. Er war schwer verliebt und hätte eigentlich in Ekstase sein sollen. Aber die Songs, die er spielte, kicherten mit jener Heiterkeit, die auf eine so tiefe Traurigkeit hindeuteten, daß es ihm unerträglich war, darüber nachzudenken. Um glücklichere Musik zu machen, hätte er sich ein Banjo kaufen und auf den Feldern arbeiten müssen.
Es war um ihn herum, und jeden Tag sah er es deutlicher.
»Können Sie
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