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Die Klinik

Die Klinik

Titel: Die Klinik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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mir sagen«, fragte ihn Moylan eines Morgens, »wieso so etwas hier geschehen kann?« Er betrachtete ein Baby mit einer Faszination, die sich aus Entsetzen und Angst zusammensetzte. Sein Ausdruck erinnerte Spurgeon an die Gesichter von Medizinstudenten, die zum erstenmal Photos abnormaler Fötusse im Lehrbuch betrachteten.
    Das Baby war farbig. Es war schwer, sein Alter zu bestimmen, weil Unterernährung das Babyfett, eine Geburtstagsgabe der Natur, aufgefressen und das magere, runzlige Gesicht eines alten Mannes zurückgelassen hatte. Die Muskeln atrophiert, lag das Kind schwach und sterbend da, und die streichholzdünnen Glieder betonten das aufgeschwollene Bäuchlein.
    »Das kann überall geschehen«, sagte Spurgeon. »Überall, wo ein Kind nicht genug Essen bekommt, um das Lebenslicht zu nähren.«
    »Nein. Ich kann verstehen, daß man so etwas vielleicht in der Hütte eines Erntearbeiters in Mississippi findet«, sagte Moylan.
    »Das können Sie verstehen, Mensch?«
    »Zum Teufel, Sie wissen doch, wie ich das meine. Aber hier, in dieser Stadt…« Er schüttelte den Kopf, und sie wandten sich ab.
     
    Spurgeon konnte nicht weit genug fliehen.
    Wenn er seine sechsunddreißig Stunden abgedient hatte, nahm er fast gegen seinen Willen die Hochbahn nach Roxbury, stieg an der Pudley-Street-Haltestelle aus, passierte das Ace High, ohne hineinzugehen, wanderte ohne ein bestimmtes Ziel dahin, bis er kein weißes Gesicht mehr sah, nur Häute in allen Schattierungen von Lederbraun bis Schwarz.
    Bruchstücke seiner Kindheit tauchten auf, da ein Anblick, dort ein Gestank oder ein Geräusch, die müden Häuser mit zerborstenen Stufen, der Abfall und Mist auf den Straßen, das wilde Kindergeschrei, ein zerbrochenes Fenster mit einer herzzerreißendrührenden Pflanze in einer Tomatendose auf dem Fensterbrett.
    Was war aus Fay Hartnett mit den dicken Schenkeln geworden, was aus Petey und Ted Simpson, Tommy White, Fats McKenna?
    Wenn er die Macht gehabt hätte, die Leute zu sehen, aus denen sich das Gefüge seiner Kindheit zusammengesetzt hatte – so, wie sie gerade jetzt, in diesem Augenblick waren – hätte er das wollen?
    Er wußte, daß er es nicht gewollt hätte.
    Sie waren wahrscheinlich tot, oder schlimmer: Huren, Zuhälter, Zutreiber, menschliches Strandgut, aktenkundig bei der Polizei, fast selbstverständlich in der mühelosen, von Drogen gebotenen Flucht verstrickt, wenn nicht durch sie getötet.
    Ein kleiner Junge mit weichem Wollhaar kam um die Ecke gestürmt, wich ihm mit einer Drehung der Hüfte wie ein laufender Torero aus, fegte dicht an ihm. mit einem kurzen, spöttischen Fluch vorbei. Spur blieb stehen und sah dem laufenden Jungen mit einem traurigen Lächeln nach.
    Gleichgültig, wie schnell du rennst, Söhnchen, dachte er, falls du nicht selbst einen Calvin J. Priest triffst, bist du eine Fliege, gefangen im heißen Teer, schon im Schatten der Dampfwalze. Als er die Chancen berechnete, die der Junge zu einer Flucht hatte, blickte er erschrocken im plötzlichen Bewußtsein seiner eigenen wunderbaren Rettung um sich.
     
    Als er ins Krankenhaus zurückkehrte, sah er nach seiner Post, fand aber nur einen Katalog einer pharmazeutischen Firma, den er im Lift öffnete und durchsah, während die alte Kabine gegen die Schwerkraft kämpfte.
    Auf dem Gang vor seinem Zimmer wartete jemand, ein kleiner rotgesichtiger Mann in einem schwarzen Mantel mit Samtkragen; er trug, wie Spur ungläubig bemerkte, eine Melone.
    »Dr. Robinson?«
    »Ja.«
    Der Mann streckte ihm einen Briefumschlag entgegen.
    »Für Sie.«
    »Ich habe soeben meine Post abgeholt.«
    Der Mann kicherte. »Per Eilboten«, sagte er. Spurgeon nahm den Briefumschlag und sah, daß er keine Marke trug. Er tastete nach einer Münze, aber der Mann setzte die Melone auf und wandte sich lächelnd zum Gehen. »Ich bin kein Botenjunge«, sagte er. »Stellvertretender Sheriff.«
    Im Zimmer setzte sich Spurgeon auf das Bett und öffnete den Umschlag.
     
    Commonwealth of Massachusetts Landesgericht Suffolk, SS:
    An Spurgeon Robinson Boston, Suffolk 
    Mit Schreiben vom 21. Februar 1968 hat Arthur Donnelly, Boston, Suffolk, eine Klage wegen falscher ärztlicher Behandlung gegen Sie eingebracht und fordert als Schadenersatz die Summe von 100000 Dollar. Die Verhandlung findet am 20. Mai 1968 statt. Im Falle Ihres Nichterscheinens ergeht das Urteil in Ihrer Abwesenheit.
    Bezeugt von R. Harold Montano, Boston, am 21. September 1967 Homer P. Riley Schriftführer 
    Als

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