Die Königin von Theben
unzerstörten Tempels ihr Ende finden, an einer Stätte, die von den Hyksos noch nicht entweiht worden war!
Entschlossen öffnete Ahotep die Tür.
In maßlosem Schrecken sah sie sich einer Löwin gegenüber. Die Muskeln spielten unter der Haut – sie schien bereit zu springen und sie zu verschlingen!
Doch die Augen der großen Raubkatze, die mit unglaublichem Realismus gestaltet waren, begnügten sich damit, sie mit flammender Wildheit anzustarren.
»Ich komme in friedlicher Absicht, Mut! Verleihe mir deine Kraft, damit Theben sich endlich gegen das Reich der Finsternis erheben kann!«
Durch eine Luke im Dachgebälk fiel ein Lichtstrahl auf die überlebensgroße Statue aus Granit. Auf dem Gewand der Mut funkelten fünfzackige Sterne in einem Kreis. Die Göttin trug ein goldenes, am unteren Ende gegabeltes Zepter in der Hand, dessen Spitze den Kopf des Gottes Seth darstellte.
Es war das Zepter ouas, ›Macht‹, das der Stadt Theben, Ouaset, der ›Machtvollen‹, ihren Namen gegeben hatte!
»Mut, erlaubst du mir, dieses Zepter zu führen?«
Die Augen der Löwin röteten sich.
»Ich schwöre dir, dass ich guten Gebrauch davon machen werde!«
In dem Augenblick jedoch, als Ahotep versuchte, das göttliche Zeichen aus Muts Hand zu nehmen, zwang eine furchtbare Hitze sie dazu, ihren Arm zurückzuziehen.
Und das Maul der Bestie öffnete sich, um die Unvorsichtige zu verschlingen.
»Ihr solltet etwas essen, Majestät«, sagte Qaris, der Haushofmeister.
»Meine Tochter hat sich umgebracht, und du verlangst, dass ich Hunger habe!«
»Vielleicht hat die Göttin Mitleid gehabt mit ihrer Jugend und ihrer Schönheit …«
»Glaubst du wirklich, dass Muts Feuer zu solch einem Gefühl in der Lage ist?«
Der Haushofmeister senkte den Kopf. Ahotep war der letzte Strohhalm einer Hoffnung gewesen an einem Königshof, der im Sterben lag … Ohne sie würde Teti die Kleine bald nicht mehr zögern, ihr Diadem abzulegen, und die Parteigänger der Hyksos könnten Theben den Eroberern zu Füßen legen.
Da Qaris keine Möglichkeit sah, der Königin zu helfen, zog er es vor zu schweigen.
Als er die herrschaftlichen Räume verließ, traf er Seqen, der mit dem Hund Wache hielt.
»Ein Priester aus Karnak wünscht, Ihre Majestät zu sprechen.«
»Ich werde es melden.«
Bald darauf empfing Teti die Kleine den Alten mit dem verschlossenen Gesicht. »So sprecht, rasch!«
»Die Götter sind die Götter, Majestät, und niemand darf ihre Gesetze brechen.«
»Meine Tochter …«
»Wusste sie nicht um die Gefahr ihres unverständigen Unternehmens?«
Die Königin musste all ihre Kräfte aufbieten, um nicht in wildes Schluchzen auszubrechen; sie dachte an die Würde, die sie ihrem Amt schuldig war, und beherrschte sich.
»Wie auch immer ihr Leichnam aussieht, ich will ihn sehen. Und ich selbst werde die Bestattungsfeierlichkeiten leiten.«
8
A pophis konnte stolz sein auf Auaris {*} , die Hauptstadt des Hyksosreichs. Sie nahm eine Fläche von über zweihundertfünfzig Hektar ein und war damit die größte Stadt Ägyptens und des Vorderen Orients. Der bloße Anblick der uneinnehmbaren Zitadelle, die sie überragte, schlug potenzielle Angreifer in die Flucht, und durch ihre strategisch günstige Lage hatte man von hier aus das ganze nordöstliche Delta in der Hand. Am Westufer des ›Wassers des Re‹ gelegen, jenem Nilarm, der Pelusium zuströmte, befand sie sich am Kreuzungspunkt von Land- und Wasserwegen, über die das östliche Mittelmeer (und damit der syrisch-palästinische Raum) und Unterägypten gleichermaßen gut erreichbar waren. Im Norden gab es in einem riesigen alten Bewässerungssystem im Herzen eines Seengebiets einen Kanal, der Auaris mit dem nach Sinai führenden Weg des Horus verband.
Wer Auaris kontrollierte, beherrschte die Welt.
Die Pharaonen des Mittleren Reichs hatten den Ort keineswegs vernachlässigt, Amenemhet I. hatte einen Tempel erbaut. Aber sie waren von der Invasion der Hyksos hinweggefegt worden, und die ursprüngliche Bevölkerung des Marktfleckens hatte die Eroberer begeistert begrüßt. Die neuen Herren des Landes hatten die Monumente und das ganze ägyptische Viertel den ›Sandläufern‹, eingeschworenen Feinden der Pharaonenmacht, überlassen, und diese ließen jetzt ihr Vieh dort weiden.
Der neue Haupttempel war Seth geweiht, der Gottheit des Blitzes, Ausdruck einer absoluten Gewalt, die von niemandem überwunden werden kann. Die Hyksos hatten verstanden, dass Gewalt die beste Politik
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