Die Königin von Theben
ich ihnen gern lasse. Der Sklave, der keine Hoffnung mehr hat, ist weniger produktiv als derjenige, der an eine Zukunft glaubt, und sei sie noch so fern. Ich füge hinzu, dass Einwanderung und erzwungene Heiraten die Bevölkerung von Grund auf verändern werden. In ein paar Jahrzehnten wird die alte Zivilisation erloschen sein, und Ägypten wird endgültig das Land der Hyksos.«
21
D er Hohepriester von Karnak konnte nicht schlafen. Daher entschloss er sich aufzustehen, sein kleines Haus am Ufer des heiligen Sees zu verlassen und im Bezirk des Gottes Amun ein wenig spazieren zu gehen.
Wie gern hätte er es gesehen, wenn wieder einmal große Bauvorhaben verwirklicht würden, wie hätte er sich am Anblick eines in die Höhe wachsenden Tempels erfreut! Doch Theben war ausgeblutet, und es gab keinen Pharao mehr. Karnak lag in einem tödlichen Dämmerschlaf.
Die Nacht war herrlich.
Der vierzehnte Tag des zunehmenden Mondes, das linke Horusauge vollendete sich; wieder einmal hatte Seth vergeblich versucht, es zu zerstückeln. Thoth, der Gott des Wissens und der Weisheit, hatte das Auge mit einem Netz aus dem Ozean der Kraft gefischt, damit es erneut seine Strahlen aussenden konnte und Steine und Pflanzen gedeihen ließ. War der wiederhergestellte Mond nicht das Bild der belebenden Energie und das Symbol des glücklichen Ägypten im Kreis all seiner Provinzen?
Der Hohepriester rieb sich die Augen.
Was er sah, konnte nur ein Trugbild sein. Und doch war er hellwach, und seine Augen sahen so gut wie am helllichten Tag.
Um Gewissheit zu erlangen, dass er sich nicht täuschte, betrachtete er noch einige Minuten den vollen Mond.
Seiner Sache sicher, machte er sich dann, so schnell ihn seine alten Beine trugen, zum Palast auf.
»Verzeiht, dass ich Euch aus dem Schlaf reiße, Haushofmeister, aber es ist wirklich wichtig!«
»Ich habe nicht geschlafen, Hohepriester.«
»Ihr müsst Ihre Majestät wecken.«
»Sie ist sehr müde«, sagte Qaris, »und sie bedarf der Ruhe.«
»Seht Euch den Mond an, schaut genau hin!«
Von einem Fenster des Palasts aus sah Qaris das Unglaubliche.
Erschüttert lief er zum Zimmer der Königin und weckte sie auf möglichst schonungsvolle Weise.
»Was gibt es, Qaris?«
»Ein außerordentliches Ereignis, Majestät! Der Hohepriester und ich selbst sind Zeugen, aber Ihr selbst sollt entscheiden, ob unsere Augen uns täuschen oder nicht. Betrachtet nur einmal den vollen Mond.«
Teti die Kleine sah nun auch die Botschaft des Himmels.
»Ahotep«, murmelte sie betroffen, »es ist Ahoteps Gesicht!«
Die Königin und ihr Haushofmeister begaben sich zum Hohepriester.
»Das Orakel spricht, Majestät; auch die Prinzessin soll es sehen, und dann werden wir wissen, wie es zu deuten ist.«
»Der Hund bewacht ihre Gemächer«, gab Qaris zu bedenken. »Er wird niemanden einlassen.«
»Es ist zu wichtig … Ich riskiere es, bleibt hinter mir.«
Als der Hohepriester sich näherte, öffnete der riesige Hund die Augen und hob den schweren Kopf, der auf einem bequemen Kissen gelegen hatte.
»Der Himmel hat gesprochen. Deine Herrin muss die Botschaft vernehmen.«
Der Hund gab einen klagenden Laut von sich, den die Prinzessin sofort hörte. Sie gab Seqen einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, warf sich eine Tunika über und öffnete die Tür.
»Hohepriester … Was macht Ihr hier?«
»Ihr müsst Euch den vollen Mond ansehen, Prinzessin.«
Ahotep trat ans Fenster und blickte zum Himmel. »Er ist wunderschön, das Horusauge ist wieder ganz, die Sonne der Nacht vertreibt die Finsternis …«
»Sonst nichts?«
»Ist er nicht das Zeichen der Hoffnung, das uns dazu bewegen soll, den Kampf fortzuführen?«
Teti die Kleine und Qaris erschienen.
»Schau ihn dir genau an«, sagte die Königin mit Nachdruck.
»Was meinst du?«
»Das Orakel ist verkündet«, wiederholte der Hohepriester, »und jetzt wissen wir den Willen des Himmels. Es ist an uns, die Konsequenzen daraus zu ziehen.«
»Ich weigere mich«, erklärte Ahotep. »Du bist die legitime Königin, und du musst es bleiben.«
»Drei von uns haben dein Gesicht im vollen Mond gesehen«, sagte Teti die Kleine, »und du hast dich nicht erkannt. Die Bedeutung eines so außerordentlichen Zeichens steht außer Zweifel: Deine Aufgabe ist es, die regenerierende Macht auf Erden zu verkörpern. Die Zeit ist gekommen, ich werde mich zurückziehen, Ahotep; ich fühle mich alt und matt. Nur eine junge Königin, die über die magische Kraft ihres Amtes verfügt,
Weitere Kostenlose Bücher