Die Königin von Theben
Schicksal erfüllt.«
»Was wäre das, Mutter?«
»Dass du den Empfang deiner Weihe nicht überlebst.«
22
A ls Prinzessin Ahotep sich dem heiligen See von Karnak näherte, tanzten Tausende von Schwalben am blauen Himmel. Unter ihnen befanden sich die Seelen der Auferstandenen, die von der anderen Seite des Lebens gekommen waren, um die Weihe einer Königin zu feiern.
Die junge Frau war so konzentriert, dass jedes der rituellen Worte sich in ihr Herz eingrub, und der Hohepriester war so bewegt, dass er ins Stottern geriet. Nie hätte er geglaubt, dass die Götter diesem wilden Mädchen ein so gefährliches Amt anvertrauen würden. Doch Ahoteps seelenvoller Blick bewies ihm, dass sie sich nicht in ihr getäuscht hatten.
»Bringt das Opfer dar, Prinzessin.«
Ahotep kniete sich auf den Boden, dem Osten zugewandt, wo die Sonne auf der Insel des Feuers gerade ihren siegreichen Kampf geführt hatte. Sie skandierte das uralte Gebet des Morgens, die Hymne an das Wunder des Lebens, das wieder einmal den Tod und den Drachen der Finsternis überwunden hatte.
»Die Reinigung sei vollendet.«
Zwei Sängerinnen Amuns nahmen Ahotep das weiße Gewand von den Schultern. Nackt schritt sie langsam die Treppe zum heiligen See hinab und tauchte in das friedliche Wasser ein, das irdische Ebenbild des heiligen Nun, des Ozeans der Energie, aus dem alle Formen des Lebens geboren werden.
»Das Böse und die Macht der Zerstörung entfernen sich von dir«, sagte ein Ritualpriester. »Das göttliche Wasser reinigt dich, und du wirst die Tochter des Lichts und der Sterne.«
Ahotep wünschte, die Zeit würde stillstehen. Sie fühlte sich aufgehoben und vor jeder Gefahr beschützt, in vollkommenem Einklang mit der unsichtbaren Kraft, die sie wiedergebar.
»Deine Glieder wurden gereinigt auf dem Feld der Opfergaben«, fuhr der Ritualpriester fort, »es mangelt dir an nichts, und an dir ist kein Fehl. Dein ganzes Wesen ist verjüngt, deine Seele kann zum Himmel fliegen. Jetzt bist du bereit, in die Halle der Maat einzutreten und die Gerechtigkeit deines Herzens feststellen zu lassen.«
Zu ihrem Bedauern musste die junge Frau den heiligen See wieder verlassen. Als die Sonne ihre Haut getrocknet hatte, wurde sie von den Sängerinnen Amuns mit einer makellos weißen Tunika aus feinem altem Leinen bekleidet.
Zögernd folgte sie dem Ritualpriester, der die Tür einer Kapelle für sie öffnete. Wie konnte Ahotep sicher sein, dass sie das Gesetz der Maat niemals übertreten hatte?
Auf einem Wandschirm sah man das Bild des Gottes Osiris, des obersten Richters. Der Prinzessin gegenüber stand die Königin, die in ihrer rechten Hand eine goldene Straußenfeder hielt, Symbol der himmlischen Gerechtigkeit.
Ahotep fühlte, dass es sich hier nicht mehr um ihre Mutter handelte, sondern um die irdische Repräsentantin der Göttin der Gerechtigkeit.
»Du, die du das Urteil über mich fällst«, erklärte sie, »du kennst mein Herz. In meinem Leben gab es keine böse Tat, und ich habe nur ein einziges Begehren: Ägypten, unser Volk, zu befreien, damit Maat von neuem über uns herrsche.«
»Bist du bereit, Ahotep, Ungerechtigkeit, Gewalt, Hass, Lüge und Undankbarkeit zu begegnen, ohne das Gefäß deines Herzens mit ihnen zu füllen?«
»Ja, ich bin bereit.«
»Weißt du, dass am Richttag dein Herz gewogen wird und dass es dann so leicht sein muss wie eine Straußenfeder?«
»Ja, ich weiß es.«
»Der Stein der Maat soll der Sockel sein, auf dem du deine Herrschaft baust. Nähre dich von Maat, lebe von ihr und lass sie von dir leben. Dann werden Himmel und Erde dich nicht verstoßen, die Götter werden dein Sein gestalten, wie es ihnen zukommt. Geh zum Licht, Ahotep.«
Obwohl die rituellen Handlungen sehr langsam vollzogen wurden, hatte die Prinzessin den Eindruck, dass die einzelnen Etappen ihrer Weihe sich mit atemberaubender Geschwindigkeit abspielten. Sie durchquerte den stellaren Urquell, stieg in die Tiefe hinab, wo Ptah, der göttliche Handwerker, Gliedmaßen formte, stieg in die Barke des Osiris, sah Re bei seinem Aufstieg und Atum bei seinem Niedergang, trank das Wasser der Flut und die Milch der Himmelskuh.
Nachdem man ihr das zeremonielle Gewand angelegt hatte, das die Göttin Teith gewebt hatte, wurde sie gesalbt, parfümiert und mit einer schweren Halskette und Armbändern geschmückt.
»Du hast den Raum überwunden wie der Wind«, verkündete der Hohepriester, »und du hast dich am Horizont mit dem Licht vereint. Möge Horus, der
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