Die Königliche (German Edition)
die Königin mit erfundenen Legenden verzaubert, Legenden über ein Land, in dem die Tiere bunte Farben hatten, die Gebäude so breit und hoch waren wie Berge und großartige Armeen aus den Felsen emporstiegen. Niemand hatte gewusst, wer seine Eltern waren, warum er eine Augenklappe trug oder warum er solche Geschichten erzählte, aber alle liebten ihn. Der König und die Königin, die selbst kinderlos waren, nahmen ihn an Sohnes statt an. Als Leck sechzehn wurde, erklärte der König, der sonst keine lebenden Verwandten hatte, ihn zu seinem Erben.
Nur Tage später starben der König und die Königin an einer geheimnisvollen Krankheit, die niemand am Hof in Frage stellte. Die Ratgeber des alten Königs stürzten sich in den Fluss, denn Leck konnte Menschen dazu bringen, solche Dinge zu tun – oder konnte sie selbst in den Fluss stoßen und dann den Zeugen erklären, dass sie etwas anderes gesehen hatten. Selbstmord statt Mord. Lecks fünfunddreißigjährige Herrschaft der mentalen Verwüstung hatte begonnen.
Bitterblue hatte all dies früher immer als Erklärung gehört. Sie hatte es nie als Geschichte präsentiert bekommen, in der der alte König und die Königin mit ihrer Einsamkeit und Güte, ihrer Liebe zu einem Jungen, zum Leben erweckt wurden. Der Geschichtenerzähler beschrieb Leck teils so, wie er gewesen war, und teils so, wie er – das wusste Bitterblue – nicht gewesen war. Er hatte nicht hämisch gegrinst und sich schurkisch die Hände gerieben. Er war einfacher als das gewesen. Er hatte einfach geredet, einfach gehandelt und Gewalttaten mit einfacher, ausdrucksloser Präzision ausgeführt. Er hatte still getan, was er tun musste, damit die Dinge so wurden, wie er sie haben wollte.
Mein Vater , dachte Bitterblue. Dann fasste sie plötzlich nach der Münze in ihrer Tasche, beschämt, dass sie gestohlen hatte. Ihr fiel ein, dass ihr Kapuzenumhang ebenfalls gestohlen war. Auch ich nehme mir, was ich will. Habe ich das von ihm?
Der junge Mann, der wusste, dass sie eine Diebin war, war ein unruhiger Mensch. Er konnte offenbar nicht stillhalten, war ständig in Bewegung, glitt zwischen Leuten hindurch, die auswichen, um ihn vorbeizulassen. Er war leicht im Auge zu behalten, weil er die auffälligste Person im ganzen Raum war, gleichzeitig Lienid und nicht Lienid.
Die Lienid waren fast ausnahmslos dunkelhaarige Menschen mit grauen Augen, einem gewissen schönen Zug um den Mund und einer speziellen Welle im Haar wie bei Skye und Bo. Sie hatten Gold in den Ohren und an den Fingern, Männer und Frauen, Adlige und Bürger gleichermaßen. Bitterblue hatte Ashens dunkles Haar und ihre grauen Augen geerbt und auch etwas vom typischen Aussehen der Lienid, obwohl der Effekt bei ihr weniger beeindruckend war als bei anderen. Auf jeden Fall sah sie eher nach einer Lienid aus als dieser Kerl.
Er hatte Haare von der Farbe nassen Sandes, die an den Spitzen von der Sonne fast weiß gebleicht waren, und seine Haut war von Sommersprossen übersät. Seine Gesichtszüge waren zwar schön, jedoch nicht ausgesprochen lienidartig, die goldenen Ohrstecker dagegen, die an seinen Ohren blitzten, und die Ringe an seinen Fingern – das waren unzweifelhaft die eines Lienid. Seine Augen waren von einem unglaublichen, ungewöhnlichen Violett, so dass man sofort erkennen konnte, dass er nicht einfach ein normaler Mensch war. Und wenn man sich dann auf diese ganzen Ungereimtheiten eingestellt hatte, sah man, dass das Violett natürlich zwei verschiedene Schattierungen hatte. Er war ein Beschenkter. Und ein Lienid, aber nicht von Geburt an.
Bitterblue fragte sich, was seine Gabe sein mochte.
Dann sah Bitterblue, wie er an einem Mann vorbeistrich, der gerade einen Schluck aus einem Becher trank, in dessen Tasche fasste, etwas herausholte und es sich unter den Arm klemmte, schneller, als Bitterblue es für möglich gehalten hätte. Als er den Blick hob und unbeabsichtigt ihrem begegnete, bemerkte er, dass sie ihn gesehen hatte. Diesmal lag keine Amüsiertheit in seiner Miene. Nur Kälte, eine gewisse Unverschämtheit und der Anflug einer mit hochgezogenen Augenbrauen ausgesprochenen Drohung.
Er kehrte ihr den Rücken zu und ging zur Tür, wo er einem jungen Mann mit glatt herunterhängenden dunklen Haaren eine Hand auf die Schulter legte. Der Mann war offenbar sein Freund, denn die beiden verließen gemeinsam das Lokal. Bitterblue wollte herausfinden, wo sie hingingen, deshalb ließ sie ihren Apfelmost stehen und folgte ihnen,
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