Die Königliche (German Edition)
strahlend – rothaarig und mit ausgeprägten Gesichtszügen. Sie hatte eine eigenartige Gabe: Furchtlosigkeit. Aber es war keine Furchtlosigkeit, die mit Leichtsinn einherging; es war einfach nur die Abwesenheit des unangenehmen Gefühls der Angst; eigentlich besaß Fox etwas, das Bitterblue als fast mathematische Fähigkeit, physikalische Konsequenzen zu erfassen, bezeichnen würde. Fox wusste besser als sonst jemand, was passieren würde, wenn sie ausrutschte und aus dem Fenster fiel. Es war dieses Wissen, das sie vorsichtig machte, nicht so sehr das Gefühl der Angst.
Bitterblue hielt eine solche Gabe bei einer Schlossdienerin eigentlich für verschwendet, aber im Monsea nach Leck waren die Beschenkten nicht länger Eigentum der Königin; sie konnten arbeiten, wo sie wollten. Und Fox schien es zu gefallen, seltsame Aufgaben in den oberen Stockwerken im Nordflügel des Schlosses auszuführen – obwohl Helda auch manchmal davon sprach, sie probeweise als Spionin einzusetzen.
»Wohnst du eigentlich im Schloss, Fox?«, fragte Bitterblue.
»Nein, Königin«, antwortete Fox von dort, wo sie hing. »Ich wohne in der Oststadt.«
»Du hast aber ungewöhnliche Arbeitszeiten, oder?«
»Das mag ich, Königin«, erwiderte Fox. »Manchmal arbeite ich die ganze Nacht durch.«
»Wie kommst du denn zu solch ungewöhnlichen Zeiten ins Schloss und wieder hinaus? Hast du manchmal Schwierigkeiten mit der Torwache?«
»Nun, raus kommt jeder, Königin. Aber um nachts durchs Torhaus hereinzukommen, zeige ich ein Armband vor, das Helda mir gegeben hat, und um an dem Lienid vor Ihrer Tür vorbeizukommen, zeige ich es erneut und nenne das Passwort.«
»Das Passwort?«
»Es ändert sich jeden Tag, Königin.«
»Und woher bekommst du das Passwort?«
»Helda versteckt es für uns, an jedem Tag der Woche an einem anderen Ort, Königin.«
»Ach so. Und wie lautet es heute?«
»›Schokoladenpfannkuchen‹, Königin«, sagte Fox.
Bitterblue lag eine Weile auf dem Sofa auf dem Rücken und dachte reiflich darüber nach. Jeden Morgen beim Frühstück bat Helda Bitterblue um ein Wort oder eine Wortfolge, die als Schlüssel für irgendwelche chiffrierten Nachrichten dienen konnten, die sie sich im Laufe des Tages schicken würden. Gestern Morgen hatte Bitterblue sich für Schokoladenpfannkuchen entschieden. »Und wie lautete das Passwort gestern, Fox?«
»›Salziger Karamell‹«, sagte Fox.
Was das Schlüsselwort war, das Bitterblue vorgestern ausgesucht hatte. »Das sind ja köstliche Passwörter«, sagte Bitterblue träge, während eine Idee in ihrem Kopf Gestalt annahm.
»Ja, Heldas Passwörter machen mich immer hungrig«, erwiderte Fox.
Ein Kapuzenumhang lag über der Sofalehne, dunkelblau, genau wie das Sofa selbst. Sicherlich Fox’ Umhang; Bitterblue hatte sie schon öfter mit solchen schlichten Capes gesehen. Es war viel unauffälliger als Bitterblues Mäntel.
»Was meinst du, wie oft die Lienid-Torwache wechselt?«, fragte Bitterblue Fox.
»Zu jeder vollen Stunde, Königin.«
»Jede Stunde! Das ist ziemlich oft.«
»Ja, Königin«, entgegnete Fox ausdruckslos. »Ich glaube nicht, dass sie besonders kontinuierliche Beobachtungen anstellen können.«
Fox hatte wieder festen Boden unter den Füßen und beugte sich mit dem Rücken zur Königin über einen Eimer mit Seifenwasser.
Bitterblue nahm den Kapuzenumhang, klemmte ihn sich unter den Arm und huschte aus dem Zimmer.
Bitterblue hatte schon früher beobachtet, wie Spione nachts ihre Räumlichkeiten betraten – verhüllt, gebeugt, unkenntlich, bis sie ihre Vermummung abgelegt hatten. Die Lienid-Torwache, ein Geschenk König Rors, bewachte den Haupteingang des Schlosses und den Eingang zu Bitterblues Wohntrakt, und zwar diskret. Sie waren außer Bitterblue und Helda niemandem Rechenschaft schuldig, noch nicht mal der Monsea-Wache, der offiziellen Armee und Polizei des Königreichs. Dies gab Bitterblues persönlichen Spionen die Freiheit, zu kommen und zu gehen, ohne dass die Verwaltung ihre Anwesenheit bemerkte. Es war eine seltsame kleine Vorkehrung Rors, um Bitterblues Privatsphäre zu schützen. Ror hatte in Lienid ein ähnliches Arrangement.
Das Armband war kein Problem, da das Armband, das Helda ihren Spionen gab, ein schlichtes Lederband mit der Kopie eines Ringes war, den Ashen früher getragen hatte. Es war ein typischer Ring aus Lienid: ein Goldring, in den winzige funkelnde dunkelgraue Steine eingelassen waren. Jeder Ring, den ein Lienid trug,
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