Die Königliche (German Edition)
das sich über das gesamte Königreich erstreckte und von dem sie abhängig war, um ihr Volk schützen zu können.
»Froggatt«, sagte sie zu ihrem Schreiber, als er das nächste Mal durch die Tür trat. »Wie soll ich allen beibringen, über die Dinge nachzudenken, eigene Entscheidungen zu treffen und wieder richtige Menschen zu werden?«
Froggatt starrte zum Fenster und biss sich auf die Lippen. Er war jünger als die meisten anderen und, wie Bitterblue sich erinnerte, frisch verheiratet. Ihr fiel wieder ein, dass sie ihn einmal lächeln gesehen hatte. »Darf ich frei sprechen, Königin?«
»Ja, natürlich, immer.«
»Lassen Sie uns erst einmal weiterhin gehorchen, Königin«, sagte er, »aber geben Sie uns ehrenhafte Anweisungen.« Er richtete sein gerötetes Gesicht auf sie. »Bitten Sie uns, ehrenhafte Dinge zu tun, damit es uns eine Ehre ist, Ihnen zu gehorchen.«
Also war es genau, wie Bo gesagt hatte. Sie brauchten eine neue Führung.
Bitterblue ging zur Kunstgalerie. Sie war auf der Suche nach Hava, ohne zu wissen, warum. Sie wollte gern in der Nähe von Havas Angst sein, weil sie sie verstand; in der Nähe von Havas Fähigkeit, sich zu tarnen, weil es etwas damit zu tun hatte, dass man sich in etwas verwandelte, was man nicht war.
In der Galerie war es nicht mehr so staubig wie früher und die Feuer brannten. Hava versuchte offenbar, sie zu einem wohnlichen Ort zu machen. Immer wenn Hava sich vor ihren Augen versteckte, nahm Bitterblue eine Art Flackern wahr, an das sie sich langsam gewöhnte, aber heute flackerte nichts in der Galerie. Bitterblue setzte sich neben den Skulpturen auf den Boden und sah sich die Verwandlungen an.
Nach einiger Zeit stieß Hava zu ihr.
»Königin«, sagte sie, »was ist los?«
Bitterblue betrachtete das einfache Gesicht des Mädchens, ihre eigenartigen kupferroten Augen und sagte: »Ich möchte mich in etwas verwandeln, das ich nicht bin, Hava. Wie du oder wie eine dieser Skulpturen deiner Mutter.«
Hava ging zu den Fenstern, die hinter den Skulpturen lagen, Fenster, die auf den großen Schlosshof hinausführten. »Ich bleibe ich selbst, Königin«, sagte sie. »Nur die anderen denken, ich sei jemand, der ich nicht bin. Was jedes Mal wieder das bestärkt, was ich bin, nämlich jemand, der nur etwas vorgibt.«
»Ich bin auch jemand, der etwas vorgibt«, sagte Bitterblue leise. »Jetzt im Moment gebe ich vor, die Herrscherin von Monsea zu sein.«
»Hm«, sagte Hava, die die Lippen schürzte und aus dem Fenster sah. »Die Skulpturen meiner Mutter zeigen eigentlich auch keine Leute, die etwas sind, was sie in Wirklichkeit nicht sind, Königin. Sie hatte eine Art, Wahrheiten über Menschen wahrzunehmen und sie in ihren Skulpturen zum Ausdruck zu bringen. Haben Sie mal darüber nachgedacht?«
»Du meinst, ich bin wirklich eine Burg«, sagte Bitterblue trocken, »und du ein Vogel?«
»Ich wusste in gewisser Weise, wie ich wegfliegen konnte, immer wenn jemand in meine Nähe kam. Der einzige Mensch, bei dem ich je ich selbst war, war meine Mutter. Selbst mein Onkel wusste bis vor kurzem nicht, dass ich am Leben war. Es war unsere Art, mich vor Leck zu verbergen, Königin. Sie hat ihm gegenüber behauptet, ich sei gestorben, und dann habe ich jedes Mal, wenn er oder irgendjemand anders am Hof in meine Nähe kam, meine Gabe benutzt, um mich zu tarnen. Ich bin weggeflogen«, sagte sie schlicht, »und Leck hat nie erfahren, dass meine Gabe die Inspiration für all ihre Skulpturen war.«
Bitterblues Blick ruhte auf Hava und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Er verunsicherte sie und sie versuchte, Havas Gesicht genauer zu mustern. »Hava«, fragte sie, »wer ist dein Vater?«
Hava schien sie nicht zu hören. »Königin«, sagte sie mit eigenartiger Stimme, »wer ist diese Frau da unten im Schlosshof?«
»Was?«
»Diese Frau«, sagte Hava, presste die Nase an die Scheibe und zeigte hinaus. Sie sprach mit dem staunenden Tonfall, den Teddy immer hatte, wenn er über Bücher redete.
Bitterblue trat vorsichtig neben Hava ans Fenster, blickte hinab und sah etwas sehr Tröstliches: Katsa und Bo, die sich im Hof küssten.
»Katsa«, hauchte Bitterblue glücklich.
»Hinter Lady Katsa«, sagte Hava ungeduldig.
Hinter Katsa stand eine dicht gedrängte Gruppe aus Leuten, die Bitterblue ganz bestimmt noch nie gesehen hatte. Am Rand der Gruppe stand eine Frau, eine ältere Frau. Sie stützte sich auf einen jüngeren Mann neben ihr. Ihr Mantel war aus hellbraunem Pelz genau wie der Hut
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