Braeutigame
Kapitel 1: Business Class
Es kommt niemand mehr, denkt Ingrid Petersen und schaut auf ihre Armbandu hr: Eine Viertelstunde, dann schließen sie.
Regen schlägt klirrend gegen die beiden Schaufenster von Petersens Reise-Welt am Rathausmarkt in Ahrensburg. Es ist Ende Februar, kurz vor sechs .
Ingrid Petersen lässt den Donnerstag Revue passieren. Ein junges Ehepaar aus Delingsdorf hat am Morgen eine W oche in einem Ferienclub in Cha lkidiki gebucht; ein zweites – rüstige, unentwegt lachend e Senioren, beide in lila Goretax-Anoraks – ein Apartment auf Gran Canaria und zwei Charterflüge res erviert, Fuhlsbüttel–Las Palmas direkt. Ihre Auszubildende Ines , die in der Teeküche aufräumt und mit Geschirr, Besteck und einer Keks dose klappert, hat im Laufe des Tages in der ihr eigenen, betulichen Art ne unzehn Bahnfahrkarten für eine Berufss chulklasse ins Computersystem eingegeben, die im Frühjahr im Harz wandern w ill, dreißig Mark je Teilnehmer hin und rück.
Das ist alles, und das reicht nicht.
Ingrid Petersen fragt sich, ob sie in zwei, drei Monaten noch genügend Geld auf dem Konto haben wird, um Miete, Strom und Ines bezahlen zu können. Und s elbst wenn: Das wäre kein Gewinn, nur eine schwarze Null. Gearbeitet für nichts.
Sie lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück und holt eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug mit Spanair-Logo aus einer Schreibtischschublade .
„Gott, wie das pladdert“, sagt sie zu sich selbst. Sie saugt den Rauch ein und behält ihn für einige Sekunden in den Lungen. Es ist ihre erste Zigarette an diesem Tag, die will sie genießen.
„Haben Sie et was gesagt, Frau Petersen?“, ruft Ines von hinten.
„Was für ein Wetter das ist, habe ich gesagt“, wiederholt Ingrid so laut, dass Ines es verste hen kann. „Wie e s schü ttet – das regnet in einer Tour. Da mag kein Mensch vor die Tür gehen. Seit wie vielen Tagen das jetzt geht… fünf oder sechs schon, was? Wir sind wirklich gestraft hier im Norden mit unserem Wetter.“
„Eine Woche schüttet das mindestens sch on“, ruft Ines empört. Ingrid Petersen hört die Besteckschublade schepper n, in die das Mädchen abgetrocknete Kuchengabeln und Teelöffel wirft. „Bei meinen Eltern“ – klirr – „hinten auf dem Rasen s teht schon das Wasser“, sagt sie , „das ist alles nur noch Schlamm und Matsch. Richtig schlimm.“ Klirr. „Meine Mutter sagt, die Pflanzen gehen kaputt davon. Die gehen ein, wenn die Wurzeln zu lange im Wasser stehen.“
Ines tritt m it einem G eschirrtuch in den Durchgang, der den Verkaufsraum vo n der Teeküche trennt, und trocknet im Stehen langsam einen bayerisch blau-weiß gemusterten Kaffeebecher ab .
Ines grinst angestrengt. Sie freut sich, dass di e Chefin mit ihr redet, selbst wenn es u m Banales geht, um Regen, Niesel, Grau-in- grau. Beide haben stundenlang , unterbrochen nur von der Mittagspause, vor ihren Computerbildschirmen gesessen, gebucht, getippt, sich angeschwiegen, Frau Petersen vorn im Laden, ein paar Schritte näher an der Tür, sie hinten am Durchgang . Unangenehm, das, findet Ines. Sie ist neunzehn, lebenslustig , im zweiten, vorletzten Jahr ihrer Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau, und Stille bei der Arbeit macht sie kribbelig . Ines plaudert gerne zwischendurch über dieses und jenes – ihren Freund Gunnar, die eigenartigen Kunden, die in den Laden kommen, Filme, die sie in Ha mburg am Gänsemarkt zeigen, Reiseziele auf Balearen und Kanaren . A ber Frau Petersen ist selten nach Reden zumute, eigentlich fast nie: eine phlegmatische Person, sagt Ines’ Vater , die zu oft und viel zu lange grübelt, nachdenklich, in sich gekehrt, norddeutsch. Nach der Mittagspause hat Ines gefragt, ob sie das Radio aus der Küche anschalten soll. Frau Petersen wollte davon nichts wissen. Es lenke von der Arbeit ab und sehe unseriös aus, schließlich könne ein Kunde in den Laden kommen. Es ist ihr wichtig, einen beschäftigten Eindruck zu machen, selbst wenn sie unbeschäftigt sind.
Eigentlich sind Januar und Februar starke Monate: Halb Ahrensburg plant die Großen Ferien. Aber in diesem Jahr laufen die Buchungen aus einem Grund, den sie nicht kennen, nur schleppend an. Ingrid Petersen ist unzufrieden – mit dem Geschäft, mit Ines, mit sich selbst, mit den kalten, nassen Winterwochen, die hinter ihnen liegen. Vor den Fensterscheiben, in denen himmel blaue Kopierzettel mit Last-Minute-Reisen nach Bulgarien, Nordafrika , Kenia und in die Dominikanische Republik
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