Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
dunkle Materie drohte mich aufzusaugen. Wie machte man aus den Kepler’schen Gesetzen ein verständliches Bild. Mit Murmeln? Hula-Hoop-Reifen? Radrennfahrern auf einer elliptischen Bahn?
An einem Freitagabend Ende September stand ich niedergeschlagen von meinem Zeichentisch auf. Ich hatte trotz stun denlangen Brütens nichts Vernünftiges zustandegebracht. Durch mein Dachfenster strömte warme Luft ins Zimmer. Ein paar lachsfarbene Wolkenbänder hoch oben waren dabei sich aufzulösen. Wahrscheinlich würde es eine klare Nacht werden. Ich kam auf die Idee, meine Recherche auszuweiten.
Unter einer Sternwarte hatte ich mir immer eine weiße Kuppel auf einem Berg vorgestellt, demgegenüber war die Realität enttäuschend. Die Volkssternwarte der Stadt München lag an einer Ausfallstraße im Osten der Stadt, in einem ehemaligen Industrieviertel, dessen alte Hallen und Speicher nun als Großraumdiscos vor sich hin vegetierten. Schilder an der Einfahrt des schlichten Bürogebäudes warben für Sonnen-, Fitness- und Karatestudios. Für Besucher stand ein Lastenaufzug in einer kleinen Eingangshalle bereit. Neben dem Knopf für das oberste Stockwerk war ein abgewetzter Aufkleber mit der Aufschrift: »Sternwarte«. Wahrscheinlich brauchte der Weltraum kein weiteres Marketing. Nachdem ich oben meine drei Euro Eintritt »für Nichtmitglieder« entrichtet hatte und eine Broschüre zum Vortrag des Abends (»Ein chaotisches Universum«) erhalten hatte, durfte ich über eine Wendeltreppe am Ende des Flurs aufs Dach hinausgehen. Auf dem Dach verlor ich vorübergehend die Orientierung. Es war so dunkel, ich hätte nicht einmal sagen können, ob ich im Freien oder noch in einem Raum war. Also blieb ich auf der Stelle stehen und wartete so lange , bis ich etwas Wind auf meinem Gesicht spürte. Irgendwo in meiner Nähe sprach ein Mann mit einer hohen, raspelnden Stimme.
»Wir hatten uns etwas mehr von ihm versprochen«, hörte ich ihn sagen . »Es gab ja ein paar wilde Prophezeiungen. Aber so wie es jetzt aussieht, war das schon alles. Es sei denn , er hat noch mal einen unerwarteten Helligkeitsausbruch.«
Ich fragte mich, wovon er sprach. Er klang ein wenig wie ein Produzent, der von seinem Nachwuchstalent enttäuscht worden war.
»Für das bloße Auge hat er nicht viel hergegeben«, fuhr der Mann fort. »Aber wir haben ja immerhin ein paar gute Aufnahmen gemacht … Vor etwa einer Woche hat er den sonnennächsten Punkt durchschritten. Bis zum nächsten Frühjahr bleibt er wohl noch beobachtbar.«
Das war es also. Das Sternchen sah nicht gut genug aus, außer auf Fotos. Immerhin war es wohl einmal der Sonne ganz nah gewesen. Es hatte seine Chance gehabt.
Ich konnte jetzt ganz in meiner Nähe eine Gruppe aus fünf oder sechs schattenhaften Gestalten ausmachen. Sie hatten sich um eine kastenförmige Apparatur versammelt, die an ein Münzfernglas erinnerte. Als ich mich näherte, ging einer aus der Gruppe zu dem Instrument und spähte hindurch. Dann nickte er wissend oder zustimmend und reihte sich kommentarlos wieder in den Halbkreis um den Sprechenden ein. Bereitwillig wurde auch ich zu dem Apparat durchgelassen. Um hindurchsehen zu können, musste ich in die Knie gehen und gleichzeitig den Hals recken. In dieser Verrenkung wagte ich den ersten Blick, kniff unwillkürlich ein Auge zu, öffnete es wieder, da der Apparat Okulare für beide Augen hatte, aber als es mir nach einigen Sekunden gelang, ein Bild zu sehen, war da immer noch nicht viel. Ich starrte in eine fischgraue Suppe. In der Mitte des kreisrunden Ausschnitts schwamm ein kleiner milchiger Fleck, verhangen wie ein Leuchtturmlicht bei Nebel. Betrachtete man ihn länger , drohte der Fleck manchmal ganz hinter Dunstschleiern zu verschwinden, dann trat er wieder leicht hervor.
»Ich glaube, nächstes Jahr bekommen wir einen bessere Show«, sagte der Mann. »Bradley soll sehr hell werden. Vielleicht der beste seit zehn Jahren.«
In der Gruppe wurde zustimmendes Gemurmel laut.
»Was ist das?« , wagte ich in die Runde hinein zu fragen.
»Ein Komet.«
»Oh.« Ich ging erneut in die Knie und sah mir den traurigen Fleck noch einmal an.
»Haben Sie mehr erwartet?« Der Mann sprach mich zum ersten Mal direkt an, so dass ich aufblickte. Er war um die vierzig, seine schlaffen Wangen und die streng abfallenden Mundwinkel erinnerten mich an die adligen Damen in englischen Ausstattungsfilmen, dazu trug er einen Pagenkopf, der eher zu einem kleinen Jungen als zu einem Erwachsenen
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