Die Kommissarin und der Tote im Fjord
wichtigsten Nachrichtensendungen waren vorbei, und es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis die Talkshows begannen. Also würde sie vermutlich nicht weiter stören.
Zwei Gestalten kamen den Hügel herauf. Es waren zwei junge Frauen. Die eine hatte lange blonde Locken, die beim Gehen wippten. Die andere hatte einen breiten Schal um Kopf und Schultern geschlungen. Beide verschwanden durch das Tor zu Vestgårds Haus. Die Töchter des Hauses, dachte Lena, oder die Tochter des Hauses mit einer Freundin. Lena sah ihnen nach, wie sie die Tür aufschlossen und ins Haus gingen. Sobald die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, stieg sie aus ihrem Wagen.
Sie drückte die Klingel. Von drinnen war nichts zu hören. Es vergingen ein paar lange Sekunden, dann wurde die breite Eingangstür von einem Mann in den Fünfzigern geöffnet. Lena kannte sein Gesicht. Es war Frikk Råholt, Aud Helen Vestgårds Mann und Staatssekretär in irgendeinem Ministerium. Sie hatte sein Gesicht schon häufig im Fernsehen gesehen. Trotzdem war sie überrascht, wie klein er war. Sein Gesicht war fein geschnitten und ansprechend, das nach hinten gekämmte Haar wurde an den Schläfen grau. Fragend schaute er sie an.
Lena zeigte ihren Ausweis. »Lena Stigersand, Kriminalpolizei Oslo. Ich würde gern mit Aud Helen Vestgård sprechen.«
Frikk Råholt schien überrascht, aber seine gute Erziehung siegte. Er hielt ihr die Tür auf und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.«
Er schloss die Tür hinter ihr. »Warten Sie hier, ich werde Bescheid sagen.« Er ging.
Der Flur war groß und einladend. An der Wand befand sich eine breite Garderobe mit Schiebetüren, und der Boden war schwarz gefliest.
Aus der Tiefe des Hauses erklang eine Radiomelodie: Dean Martin sang Let it snow .
Dean Martin wurde leiser, und die Stimme eines Radiomoderators ertönte.
In Lenas Körper machte sich schleichend das Gefühl breit,einen Fehler gemacht zu haben. Sie sah auf die Uhr. Es waren mehrere Minuten vergangen, seit Råholt sie hereingelassen hatte. Was machte das Ehepaar nur so lange?
Ein neues Weihnachtslied ertönte. Ich sah, wie Mama den Weihnachtsmann küsste .
Lena setzte sich auf eine Bank neben der Eingangstür. Wenn Aud Helen Vestgård gestern Abend mit Sveinung Adeler essen gegangen war, hatte sie selbstverständlich auf dem Präsidium Bescheid gesagt. Herrgott noch mal, der Name des Ertrunkenen war vor vielen Stunden bekannt gegeben worden, und wenn Parlamentsmitglieder etwas regelmäßig taten, dann war das doch wohl das Verfolgen von Nachrichten, sei es im Fernsehen, Radio oder Internet.
Lena drehte den Kopf und zuckte zusammen.
Auf der Türschwelle stand Aud Helen Vestgård und betrachtete sie.
Lena sprang auf wie ein Schulmädchen, das auf frischer Tat beim Schlafen im Unterricht erwischt wird.
»Frau Stigersand?« Aud Helen Vestgård reichte ihr die Hand. Für eine Frau über vierzig hatte sie sich sehr gut gehalten. Sie verbrachte garantiert viel Zeit beim Sport. Ihr ganzer Stil war ein anderer als der ihres Ehemannes. Vestgård trug Jeans und ein knallrotes Oberteil, das ihre Figur betonte und sie gleichzeitig jugendlich lässig aussehen ließ.
»Ich bin, wie Sie sicher verstehen, ziemlich gespannt«, sagte Vestgård mit ihrer angenehmen Stimme. »Haben Sie etwas herausgefunden?«
Lena hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, und musste dies mit einem unsicheren Lächeln um die Lippen zugeben.
Vestgård betrachtete Lena verwundert, erklärte aber: »Die Parlamentsverwaltung hat die Polizei über einen Brief informiert, den ich im Parlament bekommen habe. Es war ein verwirrter Brief, aber der Inhalt war eigentlich nicht misszuverstehen. Es war eine Morddrohung. Sehe ich es richtig, dass Sie nicht wegen dieses Briefes hier sind?«
Lena konzentrierte sich auf ihre Wortwahl, als sie antwortete: »Von einem Brief weiß ich leider nichts. Ich erforsche die Umstände um den Tod von Sveinung Adeler.«
Aud Helen Vestgård sah sie immer noch freundlich, aber fragend an: »Ach so?«
Lena zögerte und wählte ihre Worte mit Bedacht: »Ich dachte, Sie kennen ihn?«
»Das tue ich nicht.«
Aud Helen Vestgård schob ihre Hände in die Hosentaschen. Die Hose war so eng, dass nur ihre Fingerspitzen in die Taschenöffnung passten. »Entschuldigen Sie die Frage, aber woher glauben Sie zu wissen, dass ich diesen Mann kenne?«
Dieses Treffen nahm eine völlig andere Wendung als erwartet. Lena schwitzte in ihrer dicken Kleidung und öffnete den
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