Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
hörte sich seine Reden an, ohne ihm auch nur ein Wort zu glauben.
Aber der Nagual Julian ließ sich nicht beirren durch Don Juans mangelndes Vertrauen. Er tat so, als ob Don Juan ihm glaubte, und versammelte jeden Tag seine Lehrlinge, um ihnen Unterricht zu erteilen. Manchmal nahm er sie mit auf nächtliche Ausflüge in die Berge. Meistens überließ der Nagual die jungen Leute sich selbst - verirrt in der Wildnis der Berge, nur unter der Aufsicht Don Juans.
Begründet wurden solche Ausflüge damit, daß die jungen Leute in der Wildnis und Einsamkeit den Geist entdecken sollten. Aber sie entdeckten ihn nicht. Zumindest nicht auf eine Weise, die Don Juan verstanden hätte. Aber der Nagual Julian erklärte beharrlich, wie wichtig es sei, den Geist zu erkennen. Und schließlich war Don Juan ganz besessen von der Idee, den Geist zu entdecken. Bei einem dieser nächtlichen Ausflüge empfahl der Nagual Julian, Don Juan solle den Geist suchen - auch wenn er nicht verstand, was der Geist sei.
»Natürlich dachte er an das einzige, woran er als Nagual denken konnte: nämlich an die Bewegung des Montagepunkts«, sagte Don Juan. »Allerdings kleidete er dies in Worte, von denen er glaubte, ich würde sie besser verstehen. Er sagte, ich solle den Geist suchen.
Ich glaubte, er rede wieder mal Unsinn. Damals hatte ich bereits meine eigenen Überzeugungen. Und ich war überzeugt, der Geist sei das, was wir als Persönlichkeit, Willenskraft, Mut oder Stärke bezeichnen. Diese Eigenschaften, so glaubte ich, brauchte ich nicht zu suchen. Ich hatte sie bereits.
Der Nagual Julian behauptete, daß der Geist undefinierbar ist. Daß man ihn nicht spüren, geschweige denn über ihn sprechen kann. Er glaubte, man kann ihn nur herbeibeschwören, indem man seine Existenz anerkennt. Meine Antwort war damals dieselbe wie deine: Etwas, das nicht existiert, kann man nicht herbeibeschwören.«
Und weiter erzählte Don Juan, er sei mit dem Nagual Julian in so heftigen Streit geraten, daß der Nagual schließlich vor allen Hausbewohnern versprach, er werde ihm nicht nur auf einen Schlag zeigen, was der Geist sei, sondern auch, wie er - Don Juan - ihn definieren könne. Außerdem versprach er ein großes Fest zu veranstalten und die Nachbarn einzuladen. Alle sollten Don Juans Lektion feiern.
Damals, vor der mexikanischen Revolution, so erzählte Don Juan, gaben der Nagual Julian und die sieben Frauen seiner Hausgemeinschaft sich als wohlhabende Besitzer einer großen Hazienda aus. Niemand zweifelte an ihrer Rolle - auch nicht an der Rolle des Nagual Julian, eines reichen, stattlichen Grundbesitzers, der auf seinen ernsten Wunsch nach einer geistlichen Laufbahn verzichtet hatte, um für seine sieben unverheirateten Schwestern zu sorgen.
Irgendwann in der Regenzeit verkündete der Nagual Julian, er werde - sobald der Regen aufhörte - jenes große Fest veranstalten, das er Don Juan versprochen hatte. Und an einem bestimmten Sonntagnachmittag führte er seine ganze Hausgemeinschaft zum Ufer des Flusses, der noch immer Hochwasser führte. Der Nagual ritt hoch zu Pferde, und Don Juan lief hinterher - eine Vorkehrung für den Fall, daß sie Nachbarn begegneten. Für die Nachbarn war Don Juan der persönliche Diener des reichen Grundherrn.
Für das Picknick wählte der Nagual eine hohe Uferböschung am Fluß. Die Frauen hatten Speise und Trank vorbereitet. Der Nagual hatte Musikanten aus der Stadt kommen lassen. Es war ein großes Fest, an dem alle Landarbeiter der Hazienda teilnahmen, die Nachbarn und sogar durchreisende Fremde. Alles strömte herbei, um an der Lustbarkeit teilzunehmen.
Sie aßen und tranken nach Herzenslust. Der Nagual tanzte mit allen Frauen, er sang und trug Gedichte vor. Er erzählte Witze und inszenierte mit den Frauen kleine Stegreif-Spiele.
Dann fragte der Nagual Julian die Anwesenden, ob irgend jemand - vielleicht einer der Lehrlinge - an Don Juans Lektion teilnehmen wolle? Alle verneinten. Sie wußten Bescheid über die harte Taktik des Nagual. Und dann fragte er Don Juan, ob er noch immer herausfinden wolle, was der Geist sei.
Don Juan konnte schlecht nein sagen. Er konnte nicht mehr zurück. Und so erklärte er, daß er bereit sei. Der Nagual führte ihn zum Ufer des tosenden Flusses und hieß ihn niederknien. Und nun begann der Nagual eine lange Beschwörungsformel zu rezitieren. Er rief die Mächte des Windes und der Berge an, er forderte auch die Macht des Flusses auf, Don Juan eine Lehre zu erteilen. Seine
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