Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Litanei mochte bedeutungsschwer sein, aber sie war in so respektlose Worte gekleidet, daß alle Anwesenden lachen mußten. Als er geendet hatte, bat er Don Juan, sich zu erheben und die Augen zu schließen. Er nahm seinen Lehrling in die Arme, wiegte ihn wie ein Kind - und warf ihn in das tosende Wasser. »Du sollst den Fluß nicht hassen, um Himmels willen!« rief er ihm nach.
Don Juan bog sich vor Lachen, während er diese Geschichte erzählte. In einer anderen Situation hätte auch ich sie womöglich spaßig gefunden. In diesem Fall aber erschreckte mich Don Juans Geschichte sehr.
»Stell dir nur die Gesichter dieser Leute vor!« rief Don Juan. »Ich sah ihre entsetzten Mienen, während ich durch die Luft flog - ins Wasser. Niemand hatte erwartet, daß der teuflische Nagual so etwas tun würde.«
Don Juan glaubte damals, sein Ende sei gekommen. Er konnte kaum schwimmen, und im Fluß versinkend, fluchte er auf sich selbst, weil er sich auf diesen Streich eingelassen hatte. So wütend war er, daß er gar keine Zeit fand, in Panik zu geraten. Er dachte an nichts anders als seinen Entschluß, nicht zu sterben in diesem eiskalten Fluß - von der Hand dieses eiskalten Mannes.
Seine Füße streiften den Grund, und er stieß sich ab. Der Fluß war nicht tief, aber das Hochwasser hatte ihn breit anschwellen lassen. Die rasche Strömung riß Don Juan mit, der wassertretend versuchte, sich nicht von den Wellen umherstoßen zu lassen. Die Strömung trug ihn ein weites Stück. Und während er fortgerissen wurde, dauernd bemüht, nicht unterzugehen, geriet er in einen sonderbaren Geisteszustand. Er kannte seine Schwäche. Er war ein zorniger Mann, und seine aufgestaute Wut zwang ihn, alles und jeden zu hassen und zu bekämpfen.
Den Fluß aber konnte er nicht hassen oder bekämpfen. Er konnte nicht wütend werden auf ihn, oder mit ihm hadern - wie er es sonst mit allem und jedem tat. Bei diesem Fluß blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Strömung zu folgen.
Diese schlichte Erkenntnis gab für Don Juan den Ausschlag. Er beruhigte sich - und dann erlebte er eine freie Bewegung seines Montagepunkts. Plötzlich und unversehens merkte Don Juan, daß er nicht mehr von der brausenden Strömung mitgerissen wurde, sondern am Ufer des Flusses lief. Er lief so schnell, daß er keine Zeit zum Nachdenken fand. Eine mächtige Kraft zog ihn weiter, er sprang über Felsblöcke und gestürzte Bäume, als wären sie gar nicht vorhanden.
Nachdem Don Juan ein Weilchen in diesem irrwitzigen Tempo gelaufen war, wagte er einen Seitenblick auf die wirbelnden roten Wassermassen. Dort sah er sich selbst, von der Strömung grob umhergestoßen. Keine seiner bisherigen Erfahrungen hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. Ohne Beteiligung seines Denkens wußte er, daß er an zwei Orten gleichzeitig war. Und an einem - nämlich in dem brausenden Fluß - war er hilflos.
Seine ganze Energie sammelte sich in dem Versuch, sich zu retten. Ohne viel nachzudenken, begann er im spitzen Winkel vom Flußufer wegzulaufen. Er mußte all seine Kraft und Entschlossenheit aufbringen, um sich Zentimeter für Zentimeter vom Fluß fortzuarbeiten. Es war so mühselig, als schleppte er einen Baumstamm hinter sich her. Er bewegte sich so langsam, daß es eine Ewigkeit dauerte, ein paar Meter zurückzulegen.
Die Anstrengung war zu groß für Don Juan. Plötzlich lief er nicht mehr. Er stürzte in einen tiefen Brunnenschacht. Im Wasser landend, schrie er auf vor Kälte. Und dann befand er sich wieder im Fluß, von der Strömung davongetragen. Seine Angst vor den brausenden Wassermassen war so stark, daß er sich unwillkürlich wünschte, er wäre am Flußufer und in Sicherheit. Im nächsten Moment war er dort drüben und lief in irrwitzigem Tempo neben dem Flußufer her - wenn auch in einigem Abstand.
Irgendwann riskierte er einen Seitenblick auf das tobende Wasser. Und wieder sah er sich selbst, kämpfend, um an der Oberfläche zu bleiben. Er versuchte, einen Befehl zu brüllen. Er versuchte sich selbst zu befehlen, im spitzen Winkel ans Ufer zu schwimmen. Aber er hatte keine Stimme. Seine Angst um den im Wasser schwimmenden Teil seiner selbst war überwältigend. Sie diente als Brücke zwischen den beiden Personen Juan Matus. Und im nächsten Moment war er wieder im Wasser und schwamm im spitzen Winkel gegen das Ufer.
Es war ein unglaubliches Gefühl, zwischen zwei Orten hin und her zu wechseln. Seine Angst war verschwunden. Sein Schicksal war ihm egal.
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