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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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beherrschen. Natürlich meinen sie: um die Bewegung unseres Montagepunkts zu beherrschen. Und Makellosigkeit ist die einzige Art, wie wir Energie speichern können.«
    Man müsse kein Schüler der Zauberei sein, sagte Don Juan, um seinen Montagepunkt zu bewegen. Auch natürliche, wenngleich tragische Umstände - wie Krieg, Hunger, Streß, Erschöpfung, Trauer oder Hilflosigkeit - könnten unseren Montagepunkt zu extremen Bewegungen veranlassen. Wollten die Menschen in solcher Lage auch die Ideologie der Zauberer übernehmen, dann könnten sie, wie Don Juan sagte, solche natürlichen Bewegungen maximieren. Und sie könnten außerordentliche Dinge bewirken, statt - wie die meisten Menschen in solchen Situationen - die Rückkehr zur Normalität herbeizusehnen.
    »Wenn die Bewegung des Montagepunkts maximiert wird, dann wird der Durchschnittsmensch wie auch der Schüler der Zauberei endgültig zum Zauberer, weil seine Kontinuität durch jene verstärkte Bewegung unheilbar erschüttert wird.«
    »Wie maximiert man eine solche Bewegung?« fragte ich.
    »Indem man seine Selbstbetrachtung einschränkt. Aber das Entscheidende ist nicht die Bewegung des Montagepunkts, auch nicht die Unterbrechung der Kontinuität. Das Entscheidende ist, ob man genug Energie hat. Wenn man genug Energie hat, dann stehen einem - sobald der Montagepunkt sich bewegt - unglaubliche Möglichkeiten offen.«
    Zwar ahne der Mensch seine verborgenen Fähigkeiten, sagte Don Juan, aber er wage es leider nicht, sie zu nutzen. Darum behaupteten die Zauberer, das Schicksal des Menschen liege im Dilemma von Unwissenheit und Dummheit beschlossen. Mehr denn je sei der moderne Mensch auf die Erfahrung neuer Ideen angewiesen. Ideen, die etwas mit seiner Innenwelt zu tun haben. Also Ideen der Zauberer - nicht soziale Ideen. Erfahrungen des Menschen gegenüber dem Unbekannten, gegenüber seinem persönlichen Tod. Mehr denn je, sagte Don Juan, brauche der heutige Mensch Unterweisung über die Geheimnisse des Montagepunkts.
    Ohne Überleitung begann Don Juan, mir eine seiner Zauberei- Geschichten zu erzählen. Ein ganzes Jahr, sagte er, habe er als einziger junger Mensch im Hause des Nagual gelebt. Damals war er so egozentrisch, daß er gar nicht bemerkte, wie sein Wohltäter zu Anfang des zweiten Lehrjahres drei junge Männer und vier junge Frauen ins Haus brachte. Diese sieben Personen, die im Lauf von drei Monaten nacheinander eintrafen, waren für Don Juan nichts anderes als Dienstboten. Er beachtete sie kaum, obwohl einer der jungen Männer zu seinem Gehilfen ernannt wurde.
    Don Juan war damals sogar überzeugt, daß der Nagual Julian sie verleitet habe, ohne Entgelt für sie zu arbeiten. Fast hätten sie ihm leid getan, diese Leute mit ihrem blinden Vertrauen zu dem Nagual Julian und ihrer lästigen Anhänglichkeit gegen jedermann im Hause. Sie waren geborene Sklaven, fand Don Juan. Er wollte nichts mit ihnen zu schaffen haben. Dennoch war er verpflichtet, sich mit ihnen anzufreunden und ihnen Ratschläge zu erteilen. Nicht, weil er dies gern getan hätte, sondern weil der Nagual es als Teil seiner Dienstpflichten von ihm verlangte. Wenn sie ihn um Rat angingen, schauderte er jedesmal vor ihren trostlosen Lebensgeschichten.
    Insgeheim beglückwünschte er sich, es besser getroffen zu haben. Er war überzeugt, intelligenter zu sein als alle diese Leute zusammen. Er könne die Manöver des Nagual durchschauen, prahlte er vor ihnen, auch wenn er nicht behaupten dürfe, sie ganz zu verstehen. Und Don Juan verhöhnte ihr albernes Bemühen, sich überall nützlich zu machen. Er fand diese Leute servil und sagte ihnen ins Gesicht, sie würden von einem professionellen Tyrannen rücksichtslos ausgebeutet.
    Das Empörendste aber war, daß die vier jungen Frauen ganz offensichtlich verknallt waren in den Nagual Julian. Sie taten alles, um ihm zu gefallen. Don Juan suchte derweil Trost in seiner Arbeit, in die er sich vertiefte, um seinen Ärger zu vergessen. Oder er las stundenlang Bücher, die er im Haus des Nagual Julian fand. Lesen war seine Leidenschaft geworden. Wenn er las, durfte ihn niemand stören. Nur der Nagual Julian machte sich einen Spaß daraus, ihn niemals in Ruhe zu lassen. Immer wieder plagte er Don Juan, er solle sich mit den jungen Männern und Frauen anfreunden. Immer wieder sagte er, sie alle, auch Don Juan, wären seine Zauberlehrlinge. Don Juan war überzeugt, daß der Nagual Julian keine Ahnung hatte von Zauberei. Doch er tat ihm den Gefallen und

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