Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
dir das Leben einmal in Stunden vor, statt in Jahren. Dann ist unser Leben ungeheuer lang«, sagte er. »Auch wenn du es dir in Tagen vorstellst, ist das Leben noch unendlich lang.«
Genau das war es, was ich gedacht hatte.
Die Zauberer, erzählte er, rechneten ihr Leben nach Stunden. Auf diese Weise sei es einem Zauberer möglich, die Intensität eines normalen Lebens binnen einer Stunde zu erleben. Und diese Intensität sei vorteilhaft, wenn man Informationen in der Bewegung des Montagepunkts aufspeichern wolle.
Ich bat ihn, mir diese letzte Bemerkung ausführlicher zu erklären. Früher einmal hatte er mir nämlich empfohlen, ich solle – weil Notizenmachen während des Gesprächs so umständlich war - alle Informationen über die Welt der Zauberer, die ich von ihm erhielt, gut archiviert aufbewahren: aber nicht auf Papier, und auch nicht in meinem Kopf, sondern in der Bewegung meines Montagepunkts.
»Auch mit der geringsten Bewegung erzeugt der Montagepunkt völlig separate Inseln der Wahrnehmung«, sagte Don Juan. »Dort können wir Informationen speichern, und zwar in Form von Erfahrungen, die wir auf den verschiedenen Bewußtseinsebenen gemacht haben.«
»Wie aber lassen sich Informationen in etwas so Unbestimmtem speichern?« fragte ich.
»Der Verstand ist ähnlich unbestimmt. Und doch verläßt du dich auf ihn, weil er dir vertraut ist«, antwortete er. »Mit der Bewegung des Montagepunkts bist du noch nicht so vertraut, aber die Dinge liegen ganz ähnlich.«
»Ich meine: Auf welche Weise werden die Informationen gespeichert?« fragte ich noch einmal.
»Die Informationen werden in den Erfahrungen selbst gespeichert«, erklärte er. »Später, wenn der Zauberer seinen Montagepunkt genau an die Stelle bewegt, wo er war, als er die betreffende Erfahrung machte, erlebt er die ganze Erfahrung wieder. Die Rückbesinnung des Zauberers ist das geeignete Mittel, um alle in der Bewegung des Montagepunkts gespeicherten Informationen wiederzugewinnen.
Intensität ist also das automatische Ergebnis der Bewegung des Montagepunkts«, fuhr er fort. »Wenn du zum Beispiel diesen Moment intensiver erlebst, als du es sonst tun würdest, speicherst du Intensität. Eines Tages wirst du diesen Moment wiedererleben, indem du deinen Montagepunkt an die Stelle zurückkehren läßt, wo er sich jetzt befindet. Auf diese Weise speichern die Zauberer Informationen.«
Aber jene intensiven Erinnerungen der letzten Tage, sagte ich zu Don Juan, seien mir ganz zufällig gekommen, ohne eine besondere geistige Anstrengung meinerseits.
»Wie kann man sich absichtlich erinnern?« fragte ich.
»Intensität ist ja eine Eigenschaft der Absicht. Darum ist sie mit dem Leuchten in den Augen der Zauberer verbunden«, erklärte er. »Um sich an jene isolierten Wahrnehmungs-Inseln zu erinnern, brauchen die Zauberer nur das jeweilige Leuchten ihrer Augen zu beabsichtigen , das mit der Stelle, zu der sie zurückkehren wollen, verbunden ist. Dies habe ich dir aber schon erklärt.«
Vermutlich guckte ich überrascht. Denn Don Juan musterte mich ernst. Ein paarmal machte ich den Mund auf, um Fragen zu stellen, konnte aber meine Gedanken nicht formulieren.
»Weil der Intensitätsgrad eines Zauberers ungewöhnlich hoch ist«, sagte Don Juan, »kann er den Gegenwert einer gewöhnlichen Lebensfrist in ein paar Stunden erleben. Sein Montagepunkt bewegt sich in eine ungewohnte Position und nimmt mehr Energie auf als normalerweise. Diesen zusätzlichen Energiestrom nennen wir Intensität.«
Ich verstand ihn mit absoluter Klarheit, und meine Rationalität wankte angesichts der ungeheuerlichen Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten folgern ließen.
Don Juan fixierte mich mit einem bedeutsamen Blick. Dann warnte er mich vor einer Reaktion, der manche Zauberer, wie er sagte, zum Opfer fielen: nämlich einem frustrierenden Wunsch, die Erfahrungen der Zauberei in logischen und vernünftigen Begriffen zu erklären.
»Die Erfahrungen der Zauberei sind so befremdlich«, fuhr Don Juan fort, »daß die Zauberer sie - als intellektuelle Übung - benutzen, um sich damit selbst anzupirschen. Aber ihre Trumpfkarte als Pirscher ist, sich stets bewußt zu bleiben, daß wir wahrnehmende Wesen sind und daß die Wahrnehmung mehr Möglichkeiten enthält, als unser Verstand sich vorstellen kann.«
Ich äußerte nur mein Erschrecken vor den befremdlichen Möglichkeiten des menschlichen Bewußtseins.
»Um sich vor etwas so Ungeheuerlichem zu schützen«, sagte Don
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