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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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alles andere als bedrohlich.
    »Wir wollten dich prüfen und feststellen, was für ein Mensch du wirklich bist«, sagte Don Juan. Er führte mich zu einem der Sofas und bat mich höflich, dort Platz zu nehmen. Vicente und Silvio Manuel setzten sich auf die beiden Sessel; Don Juan saß mir gegenüber, auf der anderen Couch.
    Ich lachte nervös, aber ich hatte keine Bedenken mehr gegen meine Situation, auch nicht gegen Don Juan und seine Freunde. Alle drei betrachteten mich mit unverhohlener Neugier. Vicente konnte nicht aufhören zu lächeln, obwohl er anscheinend verzweifelt bemüht war, ein ernstes Gesicht zu wahren. Silvio Manuel schüttelte rhythmisch den Kopf, während er mich anstarrte. Sein Blick war unkonzentriert, aber auf mich gerichtet.
    »Wir haben dich angebunden«, fuhr Don Juan fort, »weil wir wissen wollten, ob du sanft oder geduldig bist, oder rücksichtslos, oder listig. Du bist keines von alledem, haben wir festgestellt. Du bist ein gewaltiger Genießer, der sich gehenläßt - genau wie ich sagte.
    Hättest du nicht in deiner Gewalttätigkeit geschwelgt, dann hättest du sicher bemerkt, daß dieser schreckliche Knoten um deinen Hals ein Schwindel war. Er zieht sich von selbst auf. Vicente hat diesen Knoten erfunden, um seine Freunde zu necken.«
    »Du hast das Seil gewalttätig zerfetzt. Du bist gewiß nicht sanft«, sagte Silvio Manuel.
    Alle schwiegen einen Moment, dann fingen sie an zu lachen. »Du bist weder rücksichtslos noch listig«, fuhr Don Juan fort.
    »Wärst du es, du hättest ohne weiteres beide Knoten aufgezogen und wärst mit einem wertvollen Lederseil davongelaufen. Du bist auch nicht geduldig. Wärst du es, dann hättest du gewinselt und geschrien, bis du gemerkt hättest, daß eine Schere dort an der Wand hängt; damit hättest du in zwei Sekunden das Seil durchtrennen und dir die Qual und Anstrengung ersparen können. Gewalttätig oder stumpfsinnig zu sein, das braucht man dich nicht zu lehren. Das bist du bereits. Aber du kannst noch lernen, rücksichtslos, listig, geduldig und sanft zu sein.«
    Rücksichtslosigkeit und List, Geduld und Sanftheit, erklärte Don Juan, seien die Quintessenz des Pirschens. Sie seien die Grundlagen, die - mit ihren Abwandlungen - in sorgfältig überlegten Schritten gelehrt werden müßten.
    Er sprach anscheinend zu mir, schaute aber Vicente und Silvio Manuel an, die mit größter Aufmerksamkeit lauschten und manchmal zustimmend nickten.
    Das Pirschen zu lehren, betonte er immer wieder, sei eine der schwierigsten Aufgaben der Zauberer. Was immer sie tun würden, um mich das Pirschen zu lehren - und was immer ich davon halten mochte -, stets würden sie ihr Tun durch Makellosigkeit leiten lassen.
    »Glaube uns, wir wissen, was wir tun. Dafür sorgte unser Wohltäter, der Nagual Julian«, sagte Don Juan - und alle lachten so schallend, daß mir ganz unbehaglich wurde. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte.
    Auch wenn das Verhalten der Zauberer einem außenstehenden Betrachter als böse erscheinen mochte, sei es - wie Don Juan noch einmal betonte - in Wirklichkeit immer makellos.
    »Wie erkennt man den Unterschied, wenn man der Adressat solchen Verhaltens ist?« fragte ich.
    »Böse Taten begehen die Leute um persönlicher Vorteile willen«, sagte er. »Die Zauberer haben bei ihrem Tun einen tieferen Sinn, der nichts mit persönlichen Vorteilen zu tun hat. Die Tatsache, daß ihr Tun ihnen Freude macht, zählt nicht als Vorteil. Dies ist eine Eigenschaft ihres Charakters. Der Durchschnittsmensch handelt nur, wenn ihm ein Profit winkt. Die Krieger können beanspruchen, nicht für Profit zu handeln, sondern für den Geist.«
    Ich wurde nachdenklich. Ein Handeln ohne Gedanken an einen Vorteil, das war eine fremde Vorstellung für mich. Ich war so erzogen, daß ich bei allem, was ich tat, etwas investierte und mir irgendeine Belohnung erhoffte.
    Don Juan mochte mein Schweigen und Nachdenken als Skepsis deuten. Er lachte und schaute seine beiden Gefährten an.
    »Nimm zum Beispiel uns vier«, fuhr er fort. »Du glaubst doch, daß du in dieser Situation investierst, um schließlich davon zu profitieren. Wenn du dich über uns ärgerst, wenn wir dich enttäuschen, kannst du uns etwas Böses antun, um uns heimzuzahlen. Wir dagegen denken nicht an persönlichen Vorteil. Unsere Handlungen sind durch Makellosigkeit bestimmt - wir können dir nicht böse sein oder enttäuscht sein von dir.«
    Seit dem Augenblick, sagte Don Juan lächelnd, als wir uns an

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