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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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seiner Stellung verpflichtet, sein Wissen auf diese Weise zu beherrschen.
    »Woran hast du dich erinnert?« fragte er mich.
    »An das erste Mal, als du mir von den vier Stimmungen des Pirschens erzähltest«, sagte ich.
    Irgendein Vorgang, unerklärlich in den Begriffen meines gewohnten Bewußtseins von dieser Welt, hatte eine Erinnerung freigesetzt, die einen Moment vorher noch nicht existiert hatte. Und ich erinnerte mich an eine ganze Kette von Ereignissen, die vor vielen Jahren geschehen waren.
    Gerade als ich Don Juans Haus in Sonora verlassen wollte, hatte er mich gebeten, ihn an einem bestimmten Tag der folgenden Woche zu treffen - gegen Mittag, jenseits der US-Grenze, in Nogales, Arizona, an der Greyhound-Busstation.
    Ich kam etwa eine Stunde zu früh. Er stand an der Tür. Ich begrüßte ihn. Er antwortete nicht, sondern zog mich hastig beiseite und flüsterte, ich solle meine Hände aus den Hosentaschen nehmen. Ich war sprachlos. Er ließ mir keine Zeit zu antworten, sondern sagte, mein Hosenschlitz stünde offen, und es sei schändlich offenbar, daß ich sexuell erregt wäre.
    Das Tempo, mit dem ich mich hastig bedeckte, war phänomenal. Bis ich erkannte, daß es ein grober Scherz war, standen wir auf der Straße. Don Juan lachte und schlug mich auf den Rücken, wiederholt und kräftig, als belustige er sich nur über den Scherz. Plötzlich fand ich mich in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit. Wir gingen in ein Café und setzten uns. Meine Sinne waren so scharf, daß ich alles anschauen wollte und meinte, das Wesen der Dinge zu sehen.
    »Verschwende keine Energie!« befahl Don Juan mit ernster Stimme. »Ich habe dich hierhergebracht, um festzustellen, ob du auch essen kannst, wenn dein Montagepunkt sich bewegt hat. Versuche jetzt nicht mehr als dies.«
    Dann aber setzte sich ein Mann zu mir an den Tisch, der meine ganze Aufmerksamkeit fesselte.
    »Laß deine Augen kreisen«, befahl Don Juan. Es war mir unmöglich, den Mann nicht zu beobachten. Ich ärgerte mich über Don Juans Befehle.
    »Was siehst du? « hörte ich Don Juan fragen.
    Ich sah einen leuchtenden Kokon, bestehend aus durchsichtigen Flügeln, die über den Kokon selbst gefaltet waren. Die Flügel breiteten sich aus, flatterten einen Moment, blätterten ab, fielen herunter und wurden durch neue Flügel ersetzt, die den gleichen Vorgang wiederholten.
    Don Juan drehte entschlossen meinen Stuhl herum, bis ich die Wand anschaute.
    »Welch eine Verschwendung«, sagte er mit einem lauten Seufzer, nachdem ich ihm geschildert hatte, was ich sah. »Du hast beinah deine ganze Energie erschöpft. Halte dich zurück! Ein Krieger muß sich konzentrieren. Wer kümmert sich schon, verdammt, um Flügel an einem leuchtenden Kokon?«
    Die gesteigerte Bewußtheit, sagte er, sei wie ein Sprungbrett, von ihr könne man in die Unendlichkeit springen. Immer wieder betonte er, daß der Montagepunkt, nachdem er sich gelöst habe, entweder an einer Stelle, nicht weit von seiner üblichen verharre, oder sich immer weiter bewege, bis ins Unendliche.
    »Die Leute haben keine Ahnung von der seltsamen Macht, die wir in uns tragen«, fuhr er fort. »In diesem Augenblick zum Beispiel hast du die Möglichkeit, das Unendliche zu erreichen. Wenn du weitermachst mit deinem nutzlosen Treiben, könntest du es schaffen, deinen Montagepunkt über eine gewisse Schwelle hinauszuschieben, von wo es keine Rückkehr mehr gibt.«
    Ich begriff die Gefahr, von der er sprach; oder vielmehr, ich hatte das körperliche Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Wenn ich mich zu weit vorbeugte, würde ich hineinfallen.
    »Dein Montagepunkt hat sich in die gesteigerte Bewußtheit bewegt«, fuhr er fort, »weil ich dir meine Energie geliehen habe.« Wir aßen schweigend, eine sehr einfache Mahlzeit. Don Juan erlaubte mir nicht, Tee oder Kaffee zu trinken.
    »Während du meine Energie benutzt«, sagte er, »bist du nicht in deiner eigenen Zeit. Du bist in meiner. Ich trinke Wasser.« Während wir zu meinem Auto zurückgingen, war mir ein wenig Übel. Ich schwankte und verlor beinah die Balance. Es war ein Gefühl, ähnlich wie bei dem ersten Gehversuch mit einer neuen Brille.
    »Nimm dich zusammen«, sagte Don Juan grinsend. »Dort, wohin wir fahren, wirst du äußerste Exaktheit brauchen.«
    Er wies mich an, über die internationale Grenze in die Zwillingsstadt Nogales in Mexiko zu fahren. Während ich steuerte, gab er mir Anweisungen: Welche Straßen ich fahren sollte, wann ich nach rechts oder

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