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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Montagepunkts abhängig ist«, sagte er.
    Genau dies hatte ich eben gedacht, und darüber hatte ich eben gelacht.
    »Ich weiß, daß dein Montagepunkt sich in diesem Moment verschoben hat«, fuhr er fort. »Du hast das Rätsel unserer Ketten verstanden. Sie halten uns zwar gefangen; aber indem sie uns auf dem angenehmen Platz unserer Selbstbetrachtung festhalten, schützen sie uns vor den Angriffen des Unbekannten.«
    Ich erlebte einen jener ungewöhnlichen Augenblicke, da mir alles, was mit der Welt der Zauberer zusammenhing, kristallklar wurde. Ich verstand alles.
    »Sobald unsere Ketten zerrissen sind«, fuhr Don Juan fort, »sind wir nicht mehr an die Sorgen der Alltagswelt gefesselt. Wir sind noch immer in der Alltagswelt, aber wir gehören nicht mehr dazu. Um dazu zu gehören, müßten wir die Sorgen der Leute teilen, und ohne Ketten können wir es nicht.«
    Don Juan sagte, der Nagual Elias habe ihm erklärt, daß wir als Durchschnittsmenschen ein gemeinsames Merkmal haben - einen symbolischen Dolch, nämlich die Sorgen unserer Selbstbetrachtung. Mit diesem Dolch schneiden wir uns blutig. Die Ketten unserer Selbstbetrachtung geben uns das Gefühl, als bluteten wir gemeinsam, als teilten wir mit anderen Menschen etwas Wunderbares: unsere Menschlichkeit. Bei genauerer Prüfung aber entdecken wir, daß wir allein bluten und daß wir überhaupt nichts gemeinsam haben; daß wir uns nur in unserem manipulierbaren, unwirklichen und von Menschen gemachten Selbstbild spiegeln.
    »Die Zauberer leben nicht mehr in der Welt der alltäglichen Sorgen«, fuhr Don Juan fort, »denn sie sind nicht mehr Opfer ihrer Selbstbetrachtung.«
    Und nun erzählte mir Don Juan die Geschichte über seinen Wohltäter und das Herabsteigen des Geistes. Die Geschichte begann, sagte er, gleich nachdem der Geist an die Tür des jungen Schauspielers geklopft hatte.
    Ich unterbrach Don Juan und fragte, warum er den Nagual Julian dauernd mit Ausdrücken wie »junger Mann« oder »junger Schauspieler« bezeichne.
    »Zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, war er nicht der Nagual«, antwortete Don Juan. »Er war ein junger Schauspieler. Ich kann ihn in meiner Geschichte nicht einfach Julian nennen, weil er für mich immer der Nagual Julian war. Als Zeichen der Ehrerbietung für seine lebenslange Makellosigkeit heften wir immer das Präfix Nagual an den Namen eines Nagual.«
    Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte. Der Nagual Elias, sagte er, hatte den Tod des jungen Schauspielers abgewehrt, indem er ihn in den Zustand gesteigerter Bewußtheit überwechseln ließ; und nach stundenlangem Bemühen erlangte der junge Schauspieler sein Bewußtsein wieder. Der Nagual Elias nannte nicht seinen Namen, vielmehr stellte er sich vor als professionellen Heiler, der zufällig am Schauplatz einer Tragödie erschienen sei, wo zwei Menschen beinah den Tod gefunden hätten. Er deutete auf Talia, die junge Frau, die ausgestreckt am Boden lag. Der junge Mann war verwundert, sie bewußtlos neben sich liegen zu sehen. Er erinnerte sich, gesehen zu haben, wie sie fortgelaufen war. Er erschrak, als er den alten Heiler erklären hörte, Gott habe zweifellos Talia für ihre Sünden bestraft, indem er sie mit dem Blitz schlug und ihres Verstandes beraubte.
    »Wie konnte ein Blitz einschlagen, wenn es nicht einmal regnet?« fragte der junge Schauspieler mit kaum hörbarer Stimme. Er war sichtlich beeindruckt, als der Alte ihm entgegnete, daß Gottes Wege nicht erforschbar wären.
    Wieder unterbrach ich Don Juan. Ich war neugierig zu erfahren, ob die junge Frau wirklich den Verstand verloren hatte. Er erinnerte mich daran, daß der Nagual Elias ihrem Montagepunkt einen vernichtenden Streich versetzt hatte. Sie habe nicht den Verstand verloren, sagte er, sondern infolge dieses Streichs wechselte sie dauernd in den Zustand gesteigerter Bewußtheit hinein und wieder hinaus. Nach einem gewaltigen Kampf aber habe der Nagual Elias ihr geholfen, ihren Montagepunkt zu stabilisieren, und sie sei für immer in die gesteigerte Bewußtheit eingegangen. Frauen, meinte Don Juan, sind fähig, solch einen Meister-Streich zu verkraften: sie können eine neue Lage ihres Montagepunkts für immer beibehalten. Und Talia war unübertroffen. Kaum waren ihre Ketten zerrissen, da verstand sie alles und fügte sich in die Pläne des Nagual.
    Don Juan nahm seine Geschichte wieder auf und sagte, der Nagual Elias - der nicht nur ein großartiger Träumer, sondern auch ein großartiger Pirscher war -

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