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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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dieser Welt hinaus, die wir kennen.
    Don Juan bemerkte, daß erfahrene Zauberer über die Welt, die wir kennen, hinausgehen können - etwas, das unerfahrene Menschen nicht können. Der Nagual Elias habe immer behauptet, daß es ihm normalerweise nicht im Traum eingefallen wäre, solch ein Unternehmen zu wagen; aber an diesem Tag war sein Handeln durch etwas anderes bestimmt als sein Wissen oder seinen freien Willen. Aber das Manöver hatte Erfolg. Talia ging über die Welt hinaus, die wir kennen, und kehrte sicher zurück.
    Dann hatte der Nagual Elias eine weitere Einsicht. Da saß er zwischen diesen beiden am Boden liegenden Menschen - der Schauspieler war nackt, nur mit dem Reitmantel des Nagual bedeckt - und überprüfte ihre Situation. Er sagte ihnen, daß sie beide durch die Macht der Umstände in eine Falle getappt waren, die der Geist selbst ihnen gestellt habe. Er, der Nagual, sei der aktive Teil der Falle, denn nachdem er ihnen unter solchen Umständen begegnet war, sei er gezwungen gewesen, ihr zeitweiliger Beschützer zu werden und sein Wissen der Zauberei anzuwenden, um ihnen zu helfen. Und als zeitweiliger Beschützer sei es seine Pflicht, sie zu warnen, daß sie sich anschickten, eine einzigartige Schwelle zu erreichen. Und daß es nur auf sie selbst ankäme - auf jeden einzelnen, und beide gemeinsam -, ob sie diese Schwelle erreichten, indem sie sich in eine Stimmung der Gelöstheit, nicht aber der Rücksichtslosigkeit versetzten; in eine Stimmung der Anteilnahme, nicht aber der Selbstaufgabe. Mehr wollte er nicht sagen, um sie nicht zu verwirren oder ihre Entscheidung zu beeinflussen. Wenn sie diese Schwelle überschreiten sollten, so behauptete er, müsse es mit einem Minimum an Hilfe seinerseits geschehen.
    Und dann ließ der Nagual sie in der Einsamkeit zurück und ging in die Stadt, um Heilpflanzen, Matten und Decken zu besorgen, die ihnen gebracht werden sollten. Er stellte sich vor, daß sie in der Einsamkeit jene Schwelle erreichen und überschreiten würden. Lange lagen die zwei jungen Menschen nebeneinander, ihren eigenen Gedanken nachhängend. Die Tatsache, daß ihre Montagepunkte sich verschoben hatten, bedeutete, daß sie tiefer denken konnten als sonst. Es bedeutete aber auch, daß sie von tieferer Sorge und Furcht erfaßt waren.
    Weil Talia sprechen durfte und etwas kräftiger war, brach sie das Schweigen; sie fragte den jungen Schauspieler, ob er sich fürchte. Er nickte zustimmend. Sie empfand großes Mitleid mit ihm und nahm einen Schal, den sie trug, und bedeckte damit seine Schultern. Sie hielt sogar seine Hand.
    Der junge Mann wagte nicht auszusprechen, was er empfand. Allzu stark und zu lebhaft war seine Furcht, der Schmerz könnte wiederkehren, falls er spräche. Er wollte sich bei ihr entschuldigen und ihr sagen, daß er einzig bedauere, sie verletzt zu haben; daß es ihm gleichgültig sei, wenn er bald sterben müsse - denn er wußte mit Sicherheit, daß er den Tag nicht überleben würde.
    Talias Gedanken gingen in die gleiche Richtung. Auch sie sagte, daß sie nur eines bedauere: ihn so heftig abgewehrt zu haben, daß sie seinen Tod herbeiführte. Sie war ganz ruhig jetzt - ein Gefühl, daß ihr, immer erregt und getrieben durch ihre große Kraft, ganz unbekannt war. Sie sagte ihm, auch ihr Tod sei nahe und sie wäre froh, wenn alles an diesem Tag zu Ende ginge.
    Der junge Schauspieler schauderte, als er seine eigenen Gedanken von Talia ausgesprochen hörte. Dann überkam ihn eine Woge der Energie, und er richtete sich auf. Er litt keine Schmerzen, auch hustete er nicht. Er atmete mit tiefen Zügen - etwas, woran er sich kaum noch erinnern konnte. Er nahm die Hand des Mädchens, und sie begannen ein Gespräch, ohne die Worte auszusprechen. In diesem Moment, so sagte Don Juan, kam der Geist zu ihnen.
    Und sie sahen. Sie waren tief religiöse Katholiken, und was sie sahen, war eine Vision des Himmels, wo alles lebendig und in Licht gebadet war. Sie sahen eine Welt von wunderbaren Bildern.
    Als der Nagual zurückkehrte, waren sie erschöpft, wenn auch nicht verletzt. Talia war bewußtlos, aber dem jungen Mann war es unter Aufbietung äußerster Selbstbeherrschung gelungen, bei Bewußtsein zu bleiben. Er bestand darauf, dem Nagual etwas ins Ohr zu flüstern.
    »Wir haben den Himmel gesehen«, flüsterte er, und Tränen flössen ihm über die Wangen.
    »Ihr habt mehr gesehen als das«, erwiderte der Nagual Elias. »Ihr habt den Geist gesehen.«
    Weil das Herabsteigen des Geistes

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