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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Anekdoten über Schiebung und Korruption im Staatsdienst und über hilflose Bauerntölpel in der Stadt. Dann fragte er die Kellnerin, ob sie Amerikanerin sei. Lachend verneinte sie. Das träfe sich gut, meinte Don Juan, denn ich sei Mexiko-Amerikaner - auf der Suche nach Liebe. Und ich könne mit seiner Suche gleich hier beginnen - sofort nach einem soliden Frühstück!
    Die Frauen lachten. Mir schien es, sie lachten über meine Verlegenheit. Und Don Juan erzählte ihnen ganz ernsthaft, ich sei nach Mexiko gekommen, um eine Frau zu finden. Er fragte sie, ob sie eine ehrliche, bescheidene und keusche Frau wüßten, die heiraten wolle und nicht allzu anspruchsvoll sei - in puncto männlicher Schönheit. Er bezeichnete sich sogar als meinen Brautwerber. Die Frauen lachten schallend. Und ich ärgerte mich sehr. Dann aber fragte Don Juan die Kellnerin, ob sie mich heiraten wolle. Nein, sagte sie, sie sei schon verlobt. Es schien, als habe sie Don Juans Frage ernst genommen.
    »Warum lassen Sie ihn nicht selbst sprechen?« fragte die alte Frau.
    »Weil er eine Sprachhemmung hat«, sagte Don Juan. »Er stottert fürchterlich.«
    Die Kellnerin meinte, ich hätte ganz normal gesprochen, als ich mein Essen bestellte.
    »Oh, gut aufgepaßt«, hatte Don Juan sie gelobt. »Nur wenn er sich Essen bestellt, kann er sprechen wie jeder normale Mensch. Ich sage ihm immer, er muß rücksichtslos sein, wenn er normal sprechen lernen will. Und ich habe ihn hierher gebracht, um ihm eine Lektion in Rücksichtslosigkeit zu erteilen.«
    »Armer Junge«, sagte die alte Dame.
    »Jetzt müssen wir aber aufbrechen, damit er heute noch Liebe finden kann«, sagte Don Juan und erhob sich.
    »Meinen Sie es ernst - die Sache mit dem Heiraten?« fragte die Kellnerin.
    »Darauf können Sie sich verlassen!« antwortete Don Juan. »Ich helfe ihm, zu finden, was er braucht, damit er über die Grenze gehen kann - zum Platz ohne Erbarmen.«
    Ich hatte damals geglaubt, Don Juan bezeichne die USA oder den Ehestand als Platz ohne Erbarmen. Ich lachte über den sinnigen Vergleich und begann im nächsten Moment furchtbar zu stottern, was den beiden Frauen einen gehörigen Schreck einjagte und bei Don Juan einen hysterischen Lachanfall auslöste.
    »Nach den Regeln mußte ich dir meine Absicht ankündigen«, sagte Don Juan, seine Erklärung fortsetzend. »Und das tat ich, auch wenn du es - erwartungsgemäß - überhörtest.«
    Von dem Augenblick an, da der Geist sich offenbarte, so sagte Don Juan, habe sich alles wie von selbst ergeben - bis hin zum befriedigenden Schluß. Mein Montagepunkt habe sich bewegt und den Platz ohne Erbarmen erreicht, wo er - im Schock über Don Juans Verwandlung - seine gewohnte Position der Selbstbetrachtung aufgeben mußte.
    In der Position der Selbstbetrachtung, fuhr Don Juan fort, sei der Montagepunkt gezwungen, eine Welt des falschen Mitleids zu montieren, in welcher Grausamkeit und Egoismus allerdings harte Realitäten wären. Echte Gefühle gäbe es nicht in dieser Welt - außer dem Gefühl für den eigenen Vorteil.
    »Für die Zauberer ist Rücksichtslosigkeit nicht grausam. Rücksichtslosigkeit ist das Gegenteil von Selbstmitleid und Selbstüberschätzung. Rücksichtslosigkeit ist Besonnenheit.«

5. Die Voraussetzungen der Absicht
     
     
     
     
     
Den Spiegel der Selbstbetrachtung zerbrechen
    Wir verbrachten eine Nacht an dem Ort, wo ich mich auf mein Erlebnis in Guaymas besonnen hatte. Während dieser Nacht, da mein Montagepunkt so beweglich war, half Don Juan mir, neue Positionen zu erreichen, die augenblicklich zu verschwommenen Nicht-Erinnerungen wurden.
    Am nächsten Tag konnte ich mich nicht mehr erinnern, was eigentlich geschehen war oder was ich wahrgenommen hatte. Dennoch hatte ich das deutliche Gefühl, absurde Dinge erlebt zu haben. Don Juan bestätigte mir, mein Montagepunkt habe sich viel weiter bewegt, als er es erwartet habe. Aber er wollte mir nicht mal andeutungsweise verraten, was ich getan hatte. Eines Tages, sagte er, würde ich mich an alles erinnern.
    Gegen Mittag setzten wir unseren Weg in die Berge fort. Schweigend wanderten wir bis in den späten Nachmittag. Während wir einen mäßig steilen Bergkamm erklommen, fing Don Juan plötzlich an zu sprechen. Ich verstand nichts von dem, was er sagte. Er wiederholte seine Worte, bis ich begriff, daß er auf einem breiten Felsband Rast machen wollte. Wir konnten das Band von unten erkennen. Dort oben, meinte er, wären wir durch Felsbrocken und Büsche vor

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