Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Wissens beschritt, war mein Leben nichts als Mangel. Und noch Jahre später, nachdem der Nagual Julian sich meiner angenommen hatte, empfand ich genauso viel Mangel - wenn nicht mehr.
Es gibt aber auch Menschen, sowohl Zauberer wie Durchschnittsmenschen, die nichts und niemanden brauchen. Sie beziehen Harmonie, Freude und Wissen direkt vom Geist. Sie brauchen keinen Vermittler. Wir beide sind anders. Ich bin dein Vermittler, und der Nagual Julian war meiner. Ein Vermittler bietet dem Schüler eine minimale Chance - nämlich das Bewußtsein der Absicht. Er hilft ihm auch, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.
Die einzige konkrete Hilfe, die ich dir wirklich leiste, ist, daß ich dein Selbstbild erschüttere. Täte ich dies nicht, dann würdest du mit mir deine Zeit verschwenden. Es ist die einzige Hilfe, die du je von mir erfahren hast.«
»Oh, Don Juan, du hast mich mehr gelehrt als sonst jemand.« »Ich habe dich alles mögliche gelehrt, um deine Aufmerksamkeit zu fesseln«, sagte er. »Wahrscheinlich würdest du schwören, daß diese Lehren das Wichtigste waren. Sie waren es nicht. Das einzig Wichtige ist die Bewegung des Montagepunktes, wie die Zauberer glauben. Und du weißt, daß diese Bewegung durch gesteigerte Energie erreicht wird, und nicht durch irgendwelche Lehren.« Und dann stellte er eine - wie ich fand - widersinnige Behauptung auf. Er sagte nämlich, daß jeder lernen könne, seinen Montagepunkt zu bewegen, wenn er nur eine einfache Kette von Handlungen einhalte.
Ich machte ihn auf seinen Widerspruch aufmerksam. Eine Handlungskette, sagte ich, bedeute für mich Unterweisung und Lehrmethode.
»In der Welt der Zauberer gibt es nur begriffliche Widersprüche«, antwortete er. »Die Praxis kennt keine Widersprüche. Die Handlungskette entsteht dadurch, daß wir uns unserer Handlungen bewußt werden. Um sie uns bewußt zu machen, brauchen wir einen Nagual. Aus diesem Grund habe ich dir gesagt, daß der Nagual eine minimale Chance bereitstellen soll. Diese minimale Chance ist aber keine Unterweisung in dem Sinn, wie man Unterweisung braucht, um den Umgang mit einer Maschine zu lernen. Die minimale Chance besteht darin, daß wir uns den Geist bewußt machen.«
Und zwar müßten wir uns bewußt machen, sagte Don Juan, daß nur die Selbstüberschätzung unseren Montagepunkt an seinem Platz fixiere. Wenn wir unsere Selbstüberschätzung einschränkten, dann sparten wir die dafür erforderliche Energie. Und diese Energie könne uns als Sprungbrett dienen, um den Montagepunkt sofort und ohne Vorbereitung auf eine unvorstellbare Reise zu schicken.
Sobald der Montagepunkt sich bewegt habe, sagte Don Juan, bewirke diese Bewegung als solche bereits eine Abkehr von unserer Selbstbetrachtung, und dies wiederum gewähre uns eine klare Verbindung zum Geist. Immerhin sei der Mensch erst durch Selbstbetrachtung vom Geiste getrennt worden.
»Die Zauberei«, wiederholte Don Juan, »ist eine Reise ohne Wiederkehr. Wir steigen hinab in die Hölle und kehren siegreich zum Geist zurück. Wir bringen Trophäen mit aus der Hölle. Eine dieser Trophäen ist das Verstehen.«
Ich wandte ein, daß die Handlungskette, von der er gesprochen hatte, mir ganz unkompliziert erschienen sei, solange er sie mir erklärte. Bei meinem Versuch, sie in die Praxis umzusetzen, hätte ich sie aber mitnichten so leicht und unkompliziert gefunden. »Die Handlungskette selbst ist einfach«, beharrte er. »Unser Problem ist, daß wir nicht akzeptieren wollen, wie leicht sie zu verwirklichen ist. Wir sind darauf gedrillt, an Lehrer, Führer und Meister zu glauben. Wenn jemand kommt und uns sagt, daß wir nichts dergleichen brauchen, dann wollen wir ihm nicht glauben. Wir werden nervös und mißtrauisch, wir sind wütend und enttäuscht. Falls wir überhaupt Hilfe brauchen, so nicht in Form von Lehrmethoden, sondern in Form von Ermutigung. Wenn jemand uns bewußt macht, daß wir unsere Selbstüberschätzung aufgeben müssen, so ist dies eine echte Hilfe.
Die Zauberer sind davon überzeugt«, fuhr Don Juan fort, »daß wir niemanden brauchen, der uns erzählt, daß die Welt viel komplizierter ist als unsere wildesten Phantasien. Warum fühlen wir uns so abhängig? Warum sehnen wir uns nach einem Führer, wo wir doch selbst unser Ziel erreichen könnten? Na, große Frage!« Don Juan schwieg. Anscheinend wollte er mir Zeit lassen, über die letzte Frage nachzudenken. Mich aber quälten andere Sorgen. Meine Rückbesinnung hatte einige
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