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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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dem Wind geschützt.
    »Welche Stelle auf dem Felsband, glaubst du, eignet sich am besten als Rastplatz für die Nacht?« fragte er.
    Während des Aufstiegs hatte ich das kaum erkennbare Felsband von weitem erspäht. Es war ein dunkler Fleck an der Bergflanke, den ich mit flüchtigem Blick wahrgenommen hatte. Jetzt, als Don Juan mich fragte, entdeckte ich eine noch dunklere - beinah schwarze - Stelle am südlichen Ende des Bandes. Das dunkle Felsband und die beinah schwarze Stelle weckten bei mir keinerlei Angst oder Besorgnis. Irgendwie war mir dieses Band sympathisch. Und noch sympathischer war mir diese dunkle Stelle.
    »Diese Stelle ist sehr dunkel, aber sie gefällt mir«, sagte ich, als wir das Felsband erreicht hatten.
    Er stimmte zu, dies sei tatsächlich der beste Rastplatz, um eine Nacht im Freien zu verbringen. Es sei ein Ort mit besonderer Energie, sagte er. Und auch ihm gefiele diese schwarze Stelle. Wir näherten uns einigen hochragenden Felsblöcken. Don Juan glättete einen Platz vor dem Felsen, und wir setzten uns, den Rücken gegen die Felsen gelehnt.
    Ich sagte zu Don Juan, daß ich mich freute, unseren Rastplatz aufs Geratewohl gefunden zu haben. Andererseits konnte ich nicht leugnen, daß ich ihn mit den Augen entdeckt hatte.
    »Ich glaube nicht, daß du diesen Platz ausschließlich mit den Augen entdeckt hast«, sagte er. »Ich glaube, die Sache war komplizierter.«
    »Was meinst du damit, Don Juan?« fragte ich.
    »Ich meine, daß du Möglichkeiten der Wahrnehmung hast, die dir noch gar nicht bewußt sind«, antwortete er. »Weil du leichtsinnig bist, könntest du glauben, daß alles, was du wahrnimmst, gewöhnliche Sinneswahrnehmungen sind.«
    Falls ich an seinen Worten zweifelte, sagte er, sollte ich zum Fuß des Berges absteigen und mich selbst überzeugen. Er prophezeite mir, ich würde das Felsband nicht erkennen, wenn ich nur einfach hinaufschaute.
    Ich beteuerte, daß ich keinen Grund hätte, an seinen Worten zu zweifeln. Ich hatte keine Lust, noch einmal den ganzen Berg hinunterzustapfen.
    Doch er beharrte darauf, wir müßten noch einmal absteigen. Ich dachte, er wolle mich nur hänseln. Aber dann merkte ich, daß es ihm ernst sein könnte, und ich wurde nervös. Er kugelte sich vor Lachen.
    Viele Tiere, sagte er, könnten Plätze mit einer besonderen Energie in ihrer Umwelt entdecken. Die meisten Tiere fürchteten solche Plätze und mieden sie. Mit Ausnahme der Berglöwen und Koyoten, die sich, wie Don Juan sagte, vorzugsweise an solchen Stellen zum Schlafen legten. Die Zauberer aber suchten bewußt solche Plätze auf - und zwar wegen ihrer Wirkung.
    Ich fragte Don Juan, was dies für eine Wirkung sei. Er sagte, daß solche Plätze eine kräftigende Energie verströmen - in der Art unmerklicher Stromstöße. Auch der Durchschnittsmensch, falls er ein natürliches Leben führe, könne solche Plätze entdecken. Er mache sich deren Wirkung allerdings nicht bewußt; auch nicht die Tatsache, sie entdeckt zu haben.
    »Woher weiß er denn, ob er solch einen Platz gefunden hat?« fragte ich.
    »Er weiß es nicht!« antwortete Don Juan. »Ein Zauberer, der Menschen auf einer Wanderung beobachtet, kann feststellen, daß diese Menschen an einem Platz mit positiver Energie leicht ermüden und gerne dort rasten. Überqueren sie einen Ort mit schädlicher Energie, dann werden sie nervös und laufen schneller. Fragt man sie anschließend, dann sagen sie, daß sie an diesem Ort schneller gelaufen sind, weil sie sich durch eine neue Energie gestärkt fühlten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Energie gibt ihnen nur der Platz, wo sie sich müde fühlen.«
    Die Zauberer, sagte er, könnten solche Plätze aufspüren, weil sie winzige Energiewellen aus der Umwelt mit ihrem Körper wahrnähmen. Weil die Zauberer sich nicht der Selbstbetrachtung hingäben, hätten sie mehr Energie - und darum auch ein größeres Spektrum der Sinneswahrnehmungen.
    »Ich erkläre dir immer wieder, wie ein Zauberer - und auch ein Durchschnittsmensch - seine Beschäftigung mit dem eigenen Selbstbild einschränken sollte«, fuhr er fort. »Ein Nagual hilft seinen Lehrlingen, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.«
    Jeder Lehrling, fügte er hinzu, sei aber ein besonderer Einzelfall; der Nagual müsse den Geist über die jeweiligen Bedingungen entscheiden lassen.
    »Wir alle haben unterschiedlich starke Bindungen an unser Selbstbild«, fuhr er fort. »Und wir empfinden diese Bindungen als Mangel. Bevor ich den Weg des

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