Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
hierin könne den Nagual zur Selbstüberschätzung verleiten - und damit zum Untergang.
Don Juan wechselte das Thema. Weil der Geist keine fühlbare Substanz habe, so sagte er, interessierten die Zauberer sich lieber für Mittel und Wege, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.
In diesem Zusammenhang müsse man auch über die Art und Weise sprechen, wie die verschiedenen Naguals ihre Rücksichtslosigkeit maskierten. Eine Maske der Großzügigkeit, meinte er, eigne sich zum Beispiel für den oberflächlichen Umgang mit Menschen. Sie sei aber nutzlos, sobald man dem anderen helfen wolle, sein Selbstbild zu erschüttern. Denn durch gespielte Großzügigkeit fordere man dem anderen unmögliche Entscheidungen ab. Ich zum Beispiel, sagte er, forderte von den Menschen, ohne Vorbereitung in die Welt der Zauberer zu springen.
»Eine Entscheidung wie dieser Sprung muß vorbereitet werden«, sagte er. »Für eine solche Vorbereitung ist jede Maske geeignet, mit der ein Nagual seine Rücksichtslosigkeit tarnt - jede, außer der Maske der Großzügigkeit.«
Vielleicht deshalb, weil ich wahnsinnig gerne großzügig gewesen wäre, bereiteten Don Juans Bemerkungen über mein Verhalten mir schreckliche Schuldgefühle. Er versicherte aber, ich hätte keinen Grund, mich zu schämen. Der einzige Nachteil gespielter Großzügigkeit sei, daß sie keine positiven Täuschungen bewirke.
Don Juan erklärte, daß ich in vieler Hinsicht seinem Wohltäter ähnelte. Aber meine Maske der Großzügigkeit sei zu plump, um einen guten Lehrer aus mir zu machen. Eine Maske der Besonnenheit, wie seine eigene, sei eher geeignet, eine für die Bewegung des Montagepunkts förderliche Atmosphäre zu schaffen. Don Juans Schüler, so sagte er, glaubten absolut an seine Besonnenheit. Er könne sie durch positive Tricks zu jeder Anstrengung motivieren.
»Dein Erlebnis, damals in Guaymas, ist ein Beispiel für die Art, wie die maskierte Rücksichtslosigkeit eines Nagual das Selbstbild des Schülers erschüttern kann«, fuhr er fort. »Meine Maske wurde dir zum Verhängnis. Wie alle, die mit mir zu tun haben, hast du an meine Vernunft geglaubt. Und du hast dich auf die Kontinuität meiner Vernunft verlassen.
Aber als ich dir nicht nur die Senilität eines schwachen Greises vorspielte, sondern selbst dieser Greis war, versuchte dein Verstand mit allen Mitteln, sowohl meine Kontinuität als auch dein Spiegelbild wieder herzustellen. Darum dachtest du, ich hätte einen Schlaganfall erlitten.
Aber als du nicht mehr an die Kontinuität meiner Vernunft glauben konntest, begann dein Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen. Von da an war die Verschiebung deines Montagepunkts nur noch eine Frage der Zeit. Das einzige Problem war, ob er den Platz ohne Erbarmen erreichen würde.«
Vielleicht glaubte Don Juan, ich sei skeptisch geblieben. Denn er erklärte mir ausführlich, daß die Welt unserer Selbstbetrachtung - also unseres Verstandes - sehr brüchig sei, zusammengehalten nur durch einige Ideen, die ihre grundlegende Ordnung bildeten. Wenn diese Ideen versagten, meinte Don Juan, funktioniere auch die grundlegende Ordnung nicht mehr.
»Welche Ideen sind das, Don Juan?« fragte ich.
»In deinem Fall, wie auch im Falle der Zuschauer jener Trance- Heilerin, von der wir sprachen, war Kontinuität die Schlüsselidee«, antwortete er.
»Und was ist Kontinuität?«
»Die Vorstellung, als wären wir Menschen massiv, wie aus einem Guß«, sagte er. »Was die Welt für unseren Verstand zusammenhält, ist die Gewißheit, wir seien unveränderlich. Wir können wohl akzeptieren, daß unser Verhalten sich ändern kann, daß unsere Reaktionen und unsere Überzeugungen sich ändern können. Aber die Vorstellung, wir wären formbar genug, um unsere äußere Erscheinung zu ändern - sogar ein anderer Mensch zu werden -, ist unvereinbar mit der grundlegenden Ordnung unseres Selbstbildes. Sobald ein Zauberer diese Ordnung stört, kommt die Welt der Vernunft zum Stillstand.«
Mir lag die Frage auf der Zunge, ob ein Zauberer nur die Kontinuität unterbrechen müsse, um seinen Montagepunkt zu bewegen. Don Juan schien meine Frage zu erraten. Das Unterbrechen der Kontinuität sei nur ein Hilfsmittel, sagte er. Was den Montagepunkt eigentlich bewege, sei die Rücksichtslosigkeit des Nagual. Er verglich seine Handlungsweise an jenem Nachmittag in Guaymas mit der Handlungsweise der Heilerin, über die wir gesprochen hatten. Diese Heilerin, sagte er, habe das Selbstbild
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