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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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des Hauses noch immer nicht identifizieren konnte. Diese Menschen kamen ihm vor wie Spiegel, die kein Spiegelbild zurückwarfen.
    »In diesem Haus suchte ich fast drei Jahre lang Zuflucht«, fuhr Don Juan fort. »In dieser Zeit passierte mir viel Neues. Aber ich nahm es nicht so wichtig. Ich hatte beschlossen, diese Dinge nicht so wichtig zu nehmen. Ich glaubte, ich hätte in diesen drei Jahren nichts anderes getan, als mich - zitternd vor Angst - zu verstecken und zu schuften wie ein Maulesel.«
    Irgendwann hatte Don Juan dem Drängen des Nagual Julian nachgegeben und sich bereit gefunden, die Zauberei zu erlernen. Auf diese Weise wollte er seine Angst besiegen, die ihn lähmte, wann immer er das lauernde Ungeheuer sah. Der Nagual Julian erzählte ihm mancherlei, doch anscheinend hatte er es nur darauf abgesehen, ihm schlimme Streiche zu spielen. Don Juan glaubte daher, daß er hier nichts lernte, was mit der Zauberei zu tun hatte - anscheinend weil niemand in diesem Haus etwas von Zauberei verstand.
    Eines Tages ging er - ohne zu wissen, was er tat - zielstrebig auf die unsichtbare Grenze los, die das Ungeheuer fernhielt. Natürlich lauerte das Ungeheuer auf ihn, wie jeden Tag. Aber an diesem Tag ging Don Juan einfach weiter voran, statt sich ins Haus zu flüchten. Eine gewaltige Welle von Energie trieb ihn vorwärts - ohne einen Gedanken an seine Sicherheit.
    Mit einem souveränen Gefühl der Distanziertheit trat er diesem Ungeheuer entgegen, das ihn so viele Jahre lang terrorisiert hatte. Nun erwartete Don Juan, das Ungeheuer werde ihm an die Kehle fahren. Aber diese Vorstellung ängstigte ihn nicht mehr. Aus wenigen Zentimetern Entfernung blickte er das Ungeheuer an, und dann überschritt er die Grenze. Das Ungeheuer stürzte sich nicht auf ihn, wie Don Juan befürchtet hatte. Es verschwamm und verlor seine Umrisse. Es verwandelte sich in ein weißes Dunst-Gebilde, in einen kaum sichtbaren Nebelfleck.
    Don Juan ging auf den Nebel los, und der Nebel wich zurück, als ob er Angst hätte. So jagte Don Juan diesen Nebelfleck über die Felder, bis er wußte, daß von dem Ungeheuer nichts übrig war. Ja, er wußte, es hatte nie ein Ungeheuer gegeben. Er wußte nicht, wovor er sich gefürchtet hatte - und doch hatte er ein unbestimmtes Gefühl, als wisse er ganz genau, wer oder was dieses Ungeheuer gewesen war. Irgend etwas hinderte ihn, an dieses Wissen auch nur zu denken. Andererseits glaubte er, daß der Nagual Julian, dieser Schurke, sehr genau wußte, was geschehen war. Und Don Juan wollte dem Nagual Julian nicht erlauben, ihm einen solchen Streich zu spielen.
    Bevor er den Nagual zur Rede stellte, leistete sich Don Juan das Vergnügen, ohne Begleitung durch die Felder zu streifen. Dies hatte er noch nie getan. Immer, wenn er sich über die unsichtbare Grenze hinauswagen mußte, hatte ein Mitglied der Hausgemeinschaft ihn begleitet. Daher war seine Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt gewesen. Die wenigen Male, als er ohne Begleitschutz auszugehen versuchte, lief er Gefahr, von dem Ungeheuer vernichtet zu werden.
    Von sonderbarer Kraft erfüllt, kehrte Don Juan zum Haus zurück. Aber statt sich seiner neuen Freiheit zu freuen, trommelte er die ganze Hausgemeinschaft zusammen und verlangte eine Erklärung, warum sie ihn so brutal angelogen hätten. Sie hätten ihn wie einen Sklaven schuften lassen, sagte er, und seine Angst vor einem nicht-existenten Ungeheuer ausgenutzt.
    Die Frauen lachten, als ob er den lustigsten Witz erzählt hätte. Einzig der Nagual Julian schien von Reue zerknirscht. Vor allem, als Don Juan - mit vor Wut bebender Stimme - seine drei Jahre der Angst schilderte. Als Don Juan eine Entschuldigung dafür verlangte, daß er so schamlos ausgebeutet worden war, sank der Nagual in sich zusammen und weinte hemmungslos.
    »Aber wir sagten dir doch, daß das Ungeheuer nicht existierte«, sagte eine der Frauen. Don Juan deutete zornblitzend auf den Nagual Julian, der kleinlaut den Kopf senkte.
    »Er wußte, daß das Ungeheuer existierte!« brüllte Don Juan. Aber gleichzeitig wurde ihm klar, welchen Unsinn er da von sich gab. Denn anfangs hatte auch der Nagual Julian ihm versichert, daß das Ungeheuer nicht existiere. »... daß das Ungeheuer nicht existierte«, verbesserte sich Don Juan, bebend vor Wut. »Das war wieder einer von seinen Tricks.«
    Hemmungslos weinend, entschuldigte sich der Nagual Julian bei Don Juan. Die Frauen kugelten sich vor Lachen. Noch nie hatte Don Juan sie so heiter

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