Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
klar, daß die Jahre bei dem Nagual Julian die einzige Zeit gewesen waren, da er keinen konkreten Mangel gelitten hatte. Armut war das Lebensgefühl, das ihn wieder beherrschte, als seine konkreten Bedürfnisse die Oberhand gewannen.
Zum erstenmal seit damals, als er verwundet worden war, begriff Don Juan, daß der Nagual tatsächlich der Nagual war - sein Führer und sein Wohltäter. Er verstand, was sein Wohltäter gemeint hatte, wenn er sagte, daß es ohne Vermittlung des Nagual keine Freiheit gab. Und Don Juan zweifelte nicht mehr daran, daß sein Wohltäter und alle Mitglieder seiner Hausgemeinschaft Zauberer waren. Und ihm wurde schmerzlich bewußt, daß er seine Chance, bei ihnen zu sein, verspielt hatte.
Als er glaubte, seine körperliche Hilflosigkeit nicht mehr ertragen zu können, verschwand seine Lähmung so geheimnisvoll, wie sie begonnen hatte. Eines Tages stand er auf und ging zur Arbeit. Aber er hatte kaum mehr Glück als vordem. Er verdiente sich kaum sein Brot.
So verstrich ein weiteres Jahr. Es ging ihm gar nicht gut, doch er entdeckte etwas, das alle seine Erwartungen übertraf. Er unternahm eine vollständige Rekapitulation seines Lebens. Nun verstand er, warum er diese Kinder liebte - warum er sie nicht verlassen konnte und nicht bei ihnen bleiben konnte. Er verstand, warum er weder so noch anders handeln konnte.
Don Juan war in eine Sackgasse geraten, und er wußte es. Nach allem, was er im Haus seines Wohltäters gelernt hatte, blieb ihm nur noch, zu sterben wie ein Krieger. Jeden Abend, nach einem frustrierenden Tag sinnloser Plackerei, wartete er geduldig auf seinen Tod.
So überzeugt war er von seinem nahen Ende, daß seine Frau und ihre Kinder bereit waren, mit ihm auf den Tod zu warten. Aus Solidarität wollten auch sie sterben. So saßen sie, alle vier, jeden Abend reglos und unverzagt - und rekapitulierten ihr Leben, während sie auf den Tod warteten.
Don Juan hatte sie mit den gleichen Worten belehrt, mit denen sein Wohltäter einst ihn belehrt hatte.
»Wünsche es nicht«, hatte sein Wohltäter gesagt. »Warte einfach, bis es kommt. Versuche nicht, dir das Sterben vorzustellen. Sei nur bereit und laß dich von seiner Strömung erfassen.«
Diese Zeit der Stille stärkte sie alle geistig, aber ihre ausgemergelten Körper prophezeiten ihnen, daß sie den Kampf verlieren würden.
Eines Tages glaubte Don Juan, daß sein Schicksal sich wendete. Er fand Beschäftigung in einer Gruppe von Ernte-Arbeitern. Doch der Geist hatte andere Pläne mit ihm. Ein paar Tage, nachdem er die Arbeit aufgenommen hatte, entwendete irgendjemand seinen Hut. Er konnte sich keinen neuen Hut kaufen - aber er brauchte einen, um in der glühenden Sonne arbeiten zu können.
So bastelte er sich einen Kopfschutz aus alten Lappen und Stroh. Seine Kollegen verlachten ihn. Er ignorierte sie. Er dachte an das Leben dieser drei Menschen, die von ihm abhängig waren. Es war ihm egal, wie er aussah. Doch die Männer ließen ihn nicht in Ruhe. Kreischend und lachend hänselten sie ihn, bis der Vorarbeiter, der um den Arbeitsfrieden fürchtete, Don Juan entließ.
Ein unbändiger Zorn übermannte Don Juan. Vorbei waren seine Besonnenheit und Vorsicht. Er wußte, daß ihm Unrecht geschehen war. Das moralische Recht war auf seiner Seite. Mit einem gellenden Schrei packte er einen der Männer und stemmte ihn hoch - in der Absicht, ihm das Rückgrat zu brechen. Aber er dachte wieder an diese hungrigen Kinder. Er dachte an ihre disziplinierten kleinen Körper, die jeden Abend, den Tod erwartend, neben ihm saßen. Er setzte den Mann auf den Boden und ging fort.
Don Juan hockte sich an den Rand des Ackers, wo die Männer arbeiteten, und all seine angestaute Verzweiflung brach hervor. Es war ein stummes Toben - aber nicht gegen die Menschen um ihn. Er tobte gegen sich selbst. Er tobte, bis all seine Wut verausgabt war.
»Vor den Augen all dieser Leute saß ich und fing an zu weinen«, fuhr Don Juan fort. »Sie schauten mich an, als sei ich verrückt geworden. Und das war ich - aber das war mir egal. An mir selbst lag mir nichts mehr.
Der Vorarbeiter hatte Mitleid mit mir. Er kam, um mir gute Ratschläge zu geben. Denn er glaubte, daß ich um mich selber weinte. Er konnte nicht wissen, daß ich um den Geist weinte.«
Und nachdem Don Juans Wut verausgabt war, so erzählte er, kam ein stiller Beschützer zu ihm. Und zwar in Gestalt einer unerklärlichen Energiewelle, die ihm das Gefühl gab, als stünde sein Tod unmittelbar
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