Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
nicht. Und diese angesammelte Wirkung zeigte bei mir ihre Folgen.
Bald nachdem ich dem Nagual begegnet war, bewegte sich mein Montagepunkt, und zwar so tief, daß ich sehen konnte. Ich sah ein Energiefeld als Ungeheuer. Und mein Montagepunkt bewegte sich weiter, als ich das Ungeheuer als das sah, was es wirklich war: nämlich ein Energiefeld. Ich konnte sehen, und ich wußte es nicht. Ich glaubte, ich hätte nichts gelernt und nichts geleistet. Ich war unglaublich dumm.«
»Du warst jung, Don Juan. Du hättest es nicht besser machen können.«
Er lachte. Er schien antworten zu wollen - aber er besann sich anders, zuckte die Schultern und fuhr fort mit seinem Bericht. Als Don Juan in Mazatlän eintraf, so erzählte er, war er beinah schon ein erfahrener Maultiertreiber. Man bot ihm eine feste Anstellung als Führer eines Maultierzugs an. Die Arbeitsbedingungen sagten ihm zu. Die Vorstellung, zwischen Mazatlän und Durango hin und her zu reiten, gefiel ihm über die Maßen. Nur zwei Dinge machten ihm Kopfzerbrechen. Erstens die Tatsache, daß er noch nie mit einer Frau zusammengewesen war. Und zweitens ein starker, unerklärlicher Drang, nach Norden zu ziehen. Er wußte nicht, warum es ihn dorthin zog. Er wußte nur, daß dort im Norden irgend etwas auf ihn wartete. Dieses Gefühl war so stark, daß er auf die Sicherheit einer festen Arbeit verzichten mußte, um nach Norden zu ziehen.
Seine große Körperkraft und eine neue, ihm selbst unerklärliche List befähigten ihn, überall Arbeit zu finden, selbst dort, wo es keine gab. Und so schlug er sich weiter durch nach Norden, bis in den Staat Sinaloa. Dort endete seine Reise. Er lernte eine junge Witwe kennen, eine Yaqui-Indianerin wie er. Sie war mit einem Mann verheiratet gewesen, dem Don Juan verpflichtet war.
Er versuchte seine Dankesschuld abzutragen, indem er sich der Witwe und ihrer Kinder annahm. Ohne sich dessen bewußt zu werden, verfiel er in die Rolle eines Gatten und Vaters. Seine neuen Pflichten belasteten ihn. Er verlor seine Bewegungsfreiheit - und sogar den Drang, weiter nach Norden zu ziehen. Er fühlte sich aber entschädigt durch seine tiefe Liebe zu der Frau und ihren Kindern.
»Als Vater und Ehemann erlebte ich Momente höchsten Glücks«, erzählte Don Juan. »Aber in solchen Momenten spürte ich auch, daß etwas nicht in Ordnung war. Ich spürte, daß ich jenes Gefühl der Distanziertheit verlor- die Zurückhaltung, die ich im Haus des Nagual Julian erlernt hatte. Jetzt konnte ich mich mit den Menschen meiner Umgebung identifizieren.«
Ein Jahr sollte die Auflösung dauern, bis er auch den letzten Rest jener neuen Persönlichkeit verlor, die er im Hause des Nagual erworben hatte. Anfangs hatte er eine tiefe, aber distanzierte Liebe zu der Frau und den Kindern empfunden. Diese distanzierte Liebe erlaubte ihm, die Rolle des Gatten und Vaters fröhlich und gerne zu spielen. Mit der Zeit wurde aus dieser distanzierten Liebe eine verzweifelte Leidenschaft, die ihm seine Kraft raubte. Verschwunden war jene Distanziertheit, die ihn erst befähigt hatte, zu lieben. Ohne diese Distanziertheit kannte er nur irdischen Mangel, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit: die typischen Kennzeichen der Alltagswelt. Verschwunden war auch sein Unternehmungsgeist. In den drei Jahren, die er im Hause des Nagual lebte, hatte er einen Elan entwickelt, der ihm zustatten kam, als er auf sich allein gestellt war.
Aber am schmerzlichsten war die Erkenntnis, daß seine Körperkraft geschwunden war. Ohne eigentlich krank zu sein, war er eines Tages völlig gelähmt. Er hatte keine Schmerzen. Und er geriet nicht in Panik. Es war, als ob sein Körper wüßte, daß er Ruhe und Frieden nur finden würde, wenn er überhaupt aufhörte, sich zu bewegen.
Er lag hilflos im Bett und grübelte ununterbrochen. Und schließlich erkannte er, daß er gescheitert war, weil er kein abstraktes Ziel hatte. Die Menschen im Hause des Nagual waren besondere Menschen, weil sie als abstraktes Ziel die Freiheit anstrebten. Don Juan wußte nicht, was Freiheit sei. Aber er wußte, sie war das Gegenteil seiner eigenen konkreten Bedürfnisse.
Das Fehlen eines abstrakten Ziels hatte ihn so schwach und kraftlos gemacht, daß er auch seine Adoptivfamilie nicht aus ihrer abgrundtiefen Armut retten konnte. Statt dessen hatten sie ihn in die Misere, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit hinabgezogen, die auch er gekannt hatte, bevor er dem Nagual begegnet war. Während er sein Leben überprüfte, wurde ihm
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