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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Haus unsicher machte. Er dürfe dieses Wissen aber nicht den Frauen mitteilen, weil er durch frühere Vereinbarungen mit ihnen zum Schweigen verpflichtet sei. Don Juan aber solle endlich aufhören mit seiner Verdrießlichkeit und Halsstarrigkeit - und lieber die gegenteiligen Charaktereigenschaften vortäuschen.
    »Tu einfach so, als wärst du zufrieden und glücklich«, empfahl er Don Juan. »Sonst werden die Frauen dich aus dem Haus jagen. Diese Aussicht sollte genügen, dir Angst zu machen. Nutze deine Angst als treibende Kraft. Etwas anderes hast du nicht.«
    Alle Zweifel und Vorbehalte waren verflogen, als Don Juan das Ungeheuer sah. Dieses Ungeheuer, gierig an jener unsichtbaren Grenze lauernd, wußte anscheinend genau Bescheid über Don Juans prekäre Situation. Es war, als freute das Ungeheuer sich bereits auf einen Schmaus. Und der Nagual Julian trieb den Stachel der Angst noch ein bißchen tiefer.
    »An seiner Stelle«, sagte er zu Don Juan, »würde ich mich wie ein Engel benehmen. Ich würde alles tun, was diese Frauen verlangen, solange sie mich vor dieser teuflischen Bestie bewahrten.«
    »Auch du siehst das Ungeheuer?« fragte Don Juan.
    »Natürlich«, antwortete er. »Und ich weiß, daß das Ungeheuer, falls du das Haus verläßt oder die Frauen dich hinausjagen, dich in Ketten fortführen wird. Dann wirst du allerdings deine Haltung ändern. Einem Sklaven bleibt nichts anderes übrig, als sich bei seinem Herrn ordentlich zu benehmen. Und man munkelt, daß solch ein Ungeheuer ungeahnte Leiden zufügen kann.«
    Don Juan wußte, er hatte nur dann eine Hoffnung, wenn er brav gehorchte. Die Angst vor dem Ungeheuer war wirklich ein starkes Motiv.
    Und weiter erzählte Don Juan, daß er sich nur gegen die Frauen so ungehobelt benahm. In Anwesenheit des Nagual Julian zeigte er immer ein gutes Betragen. Der Nagual Julian war ein Mann, mit dem Don Juan sich aus irgendeinem Grund nicht anlegen durfte.
    Der ungesellige Mann, jenes andere Mitglied der Hausgemeinschaft, zählte für Don Juan einfach nicht. Er hatte sich, gleich als er ihn kennenlernte, eine negative Meinung über ihn gebildet. Er fand den Mann schwach und träge und er verachtete ihn, weil er sich gegenüber den schönen Frauen so ohnmächtig verhielt. Später, als Don Juan den Nagual Julian besser kennengelernt hatte, wußte er, daß der Mann im Schatten dieser strahlenden Persönlichkeit stand.
    Allmählich erkannte Don Juan auch die Autoritätsbeziehungen zwischen den Bewohnern des Hauses. Erfreut und überrascht stellte er fest, daß keiner einen höheren Rang bekleidete als die anderen. Manche erfüllten Aufgaben, die den anderen verschlossen blieben - aber dies machte sie nicht überlegen. Die letzte Entscheidung in allen Dingen lag beim Nagual Julian, und dieser verkündete seine Entscheidungen gern in Form von grausamen Streichen, die er allen anderen spielte.
    Und dann gab es noch eine geheimnisvolle Frau. Die anderen nannten sie Talia, die Nagualfrau. Niemand wollte Don Juan verraten, wer sie war und warum sie die Nagualfrau hieß. Aber eine der sieben Frauen war Talia, das wußte er. Die anderen sprachen so oft von ihr, daß Don Juan neugierig wurde. Er stellte so viele Fragen, daß die Anführerin der Frauen zu ihm sagte, sie wolle ihm Lesen und Schreiben beibringen, damit er seinen Forscherdrang besser befriedigen könne. Er solle lernen, Fragen und Antworten aufzuschreiben, statt sie seinem Gedächtnis einzuprägen. Auf diese Weise werde er viele Tatsachen über Talia erfahren - und diese Tatsachen solle er so lange studieren, bis ihm die Wahrheit über Talia aufginge.
    Bevor Don Juan eine freche Antwort geben konnte, die ihm auf der Zunge lag, wurde er belehrt, daß es eine der schwierigsten und lohnendsten Aufgaben sei, nach Talia zu forschen.
    Dies hatte die Anführerin in lachendem Ton gesagt. Ernster werdend, verlangte sie, Don Juan müsse die Grundlagen der Buchhaltung erlernen, damit er dem Nagual bei der Verwaltung seines Besitzes zur Hand gehen könne.
    Sofort begann sie mit dem täglichen Unterricht. Und nach einem Jahr hatte Don Juan so viel gelernt, daß er lesen und schreiben und Konten führen konnte. Alles in diesem Haus verlief so glatt und harmonisch, daß Don Juan gewisse Veränderungen an sich selbst gar nicht bemerkt hatte. Am auffälligsten war eine für ihn neue Distanziertheit im Umgang mit den anderen. Er hatte das Gefühl, als ob in diesem Haus gar nichts passierte - einfach weil er sich mit den Bewohnern

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