Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
bevor. Er wußte, er hatte keine Zeit mehr, seine Adoptiv-Familie noch einmal zu sehen. Mit lauter Stimme bat er sie alle um Verzeihung dafür, daß er zu wenig Seelenkraft und Klugheit gehabt hatte, um sie aus ihrer Hölle auf Erden zu retten.
Die Ernte-Arbeiter verlachten ihn noch immer. Er hörte sie kaum. Tränen stiegen aus seiner Brust, während er dem Geist dafür dankte, daß er dem Nagual begegnen durfte. Daß er ihm die unverdiente Chance der Freiheit gegeben hatte. Er hörte das Johlen der verständnislosen Männer. Er hörte ihr Schimpfen und Schreien, als käme es aus ihm selbst. Sie hatten ganz recht, ihn zu verspotten. Er hatte vor der Pforte zur Unendlichkeit gestanden - und hatte es nicht gewußt.
»Jetzt verstand ich, wie sehr mein Wohltäter recht gehabt hatte«, sagte Don Juan. »Meine Dummheit war ein Ungeheuer, das mich verschlungen hatte. Doch während ich dies einsah, wußte ich, daß alles, was ich tun oder sagen mochte, sinnlos geworden war. Ich hatte meine Chance verspielt. Ich war nur noch der Hanswurst für diese Männer. Unmöglich konnte sich der Geist meiner Verzweiflung annehmen. Es waren unser zu viele in der gleichen Lage - Menschen in ihrer privaten, aus Dummheit entstandenen Hölle - als daß der Geist uns beachten konnte.
Ich kniete nieder und wandte mein Gesicht nach Südosten. Noch einmal dankte ich meinem Wohltäter und sagte dem Geist, wie sehr ich mich schämte. Ach, ich schämte mich so sehr. Mit meinem letzten Atemzug sagte ich einer Welt Adieu, die für mich so schön hätte sein können, hätte ich mehr Klugheit besessen. Und dann brach eine riesige Woge über mich herein. Anfangs spürte ich sie, dann hörte ich sie, und schließlich sah ich sie kommen - über die Felder im Südosten. Sie schlug über mir zusammen, und ihre Finsternis umhüllte mich. Das Licht meines Lebens war verloschen. Meine Hölle hatte geendet. Ich war endlich tot! Ich war endlich frei!«
Don Juans Geschichte hatte mich erschüttert. Er war nicht bereit, mit mir darüber zu diskutieren. Ein andermal, und anderswo, würden wir darüber sprechen. Jetzt wollte er fortfahren mit dem, wozu er gekommen sei: nämlich, mich die Beherrschung des Bewußtseins zu lehren.
Einige Tage später, auf dem Rückzug aus den Bergen, brachte er plötzlich seine Geschichte zur Sprache. Wir hatten uns hingesetzt, um zu rasten. Tatsächlich war ich es, der stehenbleiben mußte, um Luft zu schöpfen. Don Juans Atem ging nicht einmal schneller. »Der Kampf der Zauberer um Gewißheit ist der aufregendste Kampf, den es gibt«, sagte Don Juan. »Er ist schmerzhaft und kostet manche Opfer. Oft hat er einen Zauberer sogar das Leben gekostet.«
Wenn ein Zauberer sich vollkommene Gewißheit über sein Tun und seinen Stand in der Welt der Zauberer verschaffen wolle, so sagte er, oder wenn er intelligenten Gebrauch von seiner neuen Kontinuität machen wolle, dann müsse er die Kontinuität seines alten Lebens für ungültig erklären. Dann erst hätten seine Taten jene Sicherheit, die er brauche, um die Verletzlichkeit und Labilität seiner neuen Kontinuität auszugleichen.
»Die modernen Zauberer und Seher bezeichnen dieses Ungültigmachen der alten Kontinuität als Fahrkarte zur Makellosigkeit - als symbolischen, aber endgültigen Tod des Zauberers«, sagte Don Juan. »Und auf diesem Acker in Sinaloa bekam ich meine Fahrkarte zur Makellosigkeit. Dort starb ich. Die Verletzlichkeit meiner neuen Kontinuität kostete mich das Leben.«
»Aber warst du wirklich gestorben, Don Juan, oder nur in Ohnmacht gefallen?« fragte ich - und ich hoffte, meine Frage möge nicht zynisch klingen.
»Ich bin gestorben auf diesem Feld«, sagte er. »Ich habe gespürt, wie mein Bewußtsein aus mir hinaus und zum Adler strömte. Aber weil ich mein Leben makellos rekapituliert hatte, wollte der Adler mich nicht verschlingen. Der Adler spie mich aus. Weil mein Körper tot auf diesem Acker lag, ließ der Adler mich hindurch, zur Freiheit.
Es war, als sagte er zu mir, ich solle umkehren und es noch einmal versuchen.«
Don Juan wußte sofort, was er zu tun hatte, sagte er. Nachdem er sich aus seinem Grab befreit hatte, brachte er es wieder in Ordnung, damit es aussah, als liege die Leiche noch darin. Dann schlich er davon. Er fühlte sich stark und entschlossen. Er wußte, daß er zum Hause seines Wohltäters zurückkehren mußte. Doch bevor er die Rückreise antrat, wollte er seine Familie noch einmal aufsuchen und erklären, daß er ein Zauberer
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