Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
und Dort« hätte ich also ein »Hier und Hier« wahrgenommen.
Ich erschrak, denn Don Juan hatte recht. Ich hatte ihm verschwiegen - und nicht einmal mir selbst eingestanden -, daß ich an zwei Orten gleichzeitig gewesen war. Ohne seine Erklärung hätte ich es nicht gewagt, an eine solche Möglichkeit zu denken.
Aber ich würde viel Zeit und Energie brauchen, wiederholte Don Juan, um schließlich alles zu verstehen. Noch sei ich zu unerfahren. Noch brauchte ich seine Führung und Aufsicht. Zum Beispiel habe er, als ich über den Büschen schwebte, seinen Montagepunkt dauernd zwischen den Plätzen der Vernunft und des stillen Wissens hin und her schieben müssen, um mich zu beschützen. Dies habe ihn stark erschöpft.
Ich wollte Don Juans Ernsthaftigkeit auf die Probe stellen, und darum fragte ich ihn: »Sei ehrlich. Dieser Jaguar war merkwürdiger, als du dir selbst eingestehen willst, nicht wahr? Immerhin gehört der Jaguar nicht zur Fauna dieser Region. Der Puma wohl. Nicht aber der Jaguar. Wie kannst du das erklären?«
Bevor er antwortete, runzelte er nachdenklich die Stirn. Plötzlich war er ganz ernst geworden.
»Ich glaube, dieser Jaguar ist ein Beweis für deine anthropologische Theorie«, verkündete er feierlich. »Anscheinend folgte der Jaguar jenem sagenhaften Handelsweg, der einst Chihuahua mit Mittelamerika verband.«
Don Juans Lachen hallte als Echo aus den Bergen. Dieses Echo erschreckte mich kaum weniger als vorhin der Jaguar. Aber nicht das Echo selbst war mir unheimlich, sondern die Tatsache, daß ich noch niemals zur Nachtzeit ein Echo gehört hatte. Das Echo gehörte in meiner Phantasie mit dem hellen Tag zusammen.
Mehrere Stunden waren vergangen, während ich mich auf alle Einzelheiten dieses Erlebnisses mit dem Jaguar besann. Don Juan hatte nicht mit mir gesprochen. Er war, gegen den Stein gelehnt, im Sitzen eingeschlafen. Irgendwann vergaß ich, daß er da war, und dann war auch ich eingeschlafen.
Ich erwachte von einem stechenden Schmerz in der Wange. Im Schlaf hatte ich meine Schläfe gegen einen Stein gedrückt. In diesem Moment, als ich die Augen aufschlug, versuchte ich von dem Felsblock zu gleiten, auf dem ich ausgestreckt lag. Ich verlor aber die Balance und plumpste auf den Hintern. Don Juan, der eben aus den Büschen trat, lachte sich schief.
Es war spät geworden. Mehr an mich selbst gewandt, spekulierte ich, ob wir Zeit genug hätten, vor Anbruch der Nacht ins Tal abzusteigen. Don Juan schien unbesorgt. Er zuckte die Schultern und setzte sich neben mich.
Ich bat ihn, ob ich ihm meine Erinnerung ausführlich schildern dürfe. Er nickte bejahend, stellte mir aber keine Fragen. Nachdem er es mir überließ, mit meinem Bericht anzufangen, erklärte ich, daß drei Dinge an diesem Erlebnis für mich sehr wichtig wären: Erstens, daß er von einem stillen Wissen gesprochen hatte. Zweitens, daß mein Montagepunkt durch die Absicht bewegt worden war. Drittens, daß ich den Zustand gesteigerter Bewußtheit erreicht hatte, ohne daß ein Schlag auf die Schulterblätter nötig war. »Deine größte Leistung war, daß du die Bewegung deines Montagepunkts beabsichtigt hast«, sagte Don Juan. »Aber Leistung ist stets ein persönlicher Wertmaßstab. Sie ist nötig, aber sie ist nicht das Wichtigste. Am wichtigsten ist jenes andere Element, auf das die Zauberer warten.«
Ich glaubte zu wissen, was er mit jenem anderen Element meinte. Und ich sagte zu ihm, daß ich jenes Erlebnis nicht ganz vergessen hätte. Auch in meinem normalen Bewußtseinszustand erinnerte ich mich, daß ein Berglöwe - die Vorstellung eines Jaguars schien mir allzu unwahrscheinlich - uns den Berg hinauf gehetzt hatte. Und ich erinnerte mich, daß Don Juan mich damals gefragt hatte, ob ich mich durch den Angriff der Raubkatze beleidigt fühlte. Ich hatte geantwortet, daß es in einem solchen Falle absurd wäre, sich beleidigt zu fühlen. Ein ähnliches Gefühl, so hatte er gesagt, solle ich gegenüber meinen Mitmenschen entwickeln. Ich solle mich schützen oder ihnen ausweichen - aber ohne mich ins Unrecht gesetzt zu fühlen.
»Das ist nicht jenes andere Element, von dem ich gesprochen habe«, sagte er lachend. »Das einzig Wichtige ist die Idee des Abstrakten - der Geist. Das persönliche Ich hat keinerlei Wert. Du selbst, Carlos, stellst immer noch dich und deine Gefühle in den Mittelpunkt. Ich habe dir aber immer wieder gesagt, du sollst abstrahieren. Wahrscheinlich glaubtest du, ich meine ein abstraktes Denken.
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