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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Müdigkeit. Ich bewegte mich so schnell und leicht, daß ich euphorisch wurde.
    Es war nicht so, als würde ich laufen; auch nicht, als würde ich fliegen. Es war einfach so, daß ich mit größter Leichtigkeit vorangetrieben wurde. Meine Bewegungen wurden nur dann unbeholfen und fahrig, wenn ich darüber nachzudenken versuchte. Wenn ich mich einfach gedankenlos daran freute, geriet ich in eine körperliche Euphorie, so einzigartig, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sollte es in meinem Leben irgendwann Augenblicke solcher körperlichen Glückseligkeit gegeben haben, dann mußten sie so kurz gewesen sein, daß sie keine Erinnerungen hinterließen. Und doch war diese Ekstase mit einem Gefühl des Wiedererkennens verbunden, als hätte ich diesen Zustand früher einmal gekannt, aber längst vergessen.
    Die Lust, durch den Chaparral zu laufen, war so intensiv, daß alles andere zu existieren aufhörte. Für mich gab es nur noch Augenblicke der Euphorie - und dann wieder Augenblicke, wenn ich stehenblieb und den Chaparral betrachtete.
    Ganz unerklärlich aber war das körperliche Gefühl, hoch über den Büschen zu schweben. Diese Empfindung hatte ich, seit ich von einer unerklärlichen Macht vorangetrieben wurde. Und dann sah ich - ganz deutlich - die Silhouette des Jaguars vor mir. Er lief fort, so schnell er konnte. Und ich hatte den Eindruck, als sei er bemüht, den Stacheln der Kakteen auszuweichen. Jedenfalls paßte er gut auf, wohin er seine Tatzen setzte.
    Plötzlich hatte ich Lust, dem Jaguar nachzurennen und ihn zu erschrecken, damit er seine Vorsicht aufgäbe. Er sollte sich an den Domen stechen. Jetzt aber formte sich ein Gedanke in meinem wortlosen Denken: Ich dachte, ein von Domen verletzter Jaguar würde gefährlicher sein. Dieser Gedanke hatte auf mich die Wirkung, als habe man mich aus einem Traum wachgerüttelt.
    Als ich merkte, daß mein Denken wieder funktionierte, stellte ich fest, daß ich mich am Fuß einer niedrigen Kette von felsigen Hügeln befand. Ich schaute mich um. Don Juan lief ein paar Meter hinter mir. Er wirkte erschöpft. Er war blaß und rang nach Luft. »Was ist passiert, Don Juan?« fragte ich, nachdem ich mich geräuspert hatte, um meine Kehle freizubekommen.
    »Verrate du mir, was passiert ist«, keuchte er.
    Ich erzählte ihm von meinen sonderbaren Empfindungen. Und jetzt erst fiel mir auf, daß ich den Berggipfel vor mir kaum noch sehen konnte. Die Dämmerung war fortgeschritten - was bedeutete, daß ich länger als zwei Stunden umhergelaufen sein mußte. Ich bat Don Juan, mir diese Zeitspanne zu erklären. Mein Montagepunkt, sagte er, habe sich über den Platz ohne Erbarmen hinausbewegt und den Platz stillen Wissens erreicht. Doch fehlte mir noch immer die Energie, ihn selbsttätig zu manipulieren. Hätte ich genug Energie gehabt, um meinen Montagepunkt zu manipulieren, dann hätte ich mich zwischen Vernunft und stillem Wissen hin und her bewegen können. Denn die Zauberer könnten, falls sie genug Energie hätten - oder in Situationen auf Leben und Tod -, durch eine Bewegung ihres Montagepunkts zwischen Vernunft und stillem Wissen hin und her wechseln.
    Wegen unserer gefährlichen Situation hätte ich wahrscheinlich, sagte er, meinen Montagepunkt vom Geist bewegen lassen. Daraufhin sei ich in den Platz stillen Wissens eingetreten. Dies habe meine Wahrnehmung erweitert und mir das Gefühl vermittelt, riesengroß zu sein und über den Büschen zu schweben.
    Damals interessierte ich mich - im Rahmen meiner wissenschaftlichen Forschung - für das Problem der kognitiven Geltung durch sozialen Konsens. Ich stellte ihm also meine Lieblingsfrage aus jener Zeit:
    »Angenommen, ein Anthropologe von der Kalifornischen Universität hätte mich beobachtet. Hätte er einen Riesen durch die Büsche stapfen sehen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Don Juan. »Du kannst es vielleicht herausfinden, wenn du nächstens im Anthropologischen Institut deinen Montagepunkt bewegst.«
    »Ich habe es versucht«, sagte ich. »Aber nie passiert etwas. Ich muß wahrscheinlich bei dir sein, damit etwas passiert.«
    »Oder es war für dich keine Frage auf Leben und Tod«, sagte er. »In diesem Fall hättest du deinen Montagepunkt ganz von selbst bewegt.«
    »Aber würden auch die anderen sehen, was ich sehe, nachdem sich mein Montagepunkt bewegt hat?« fragte ich.
    »Nein. Denn ihr Montagepunkt wäre nicht am gleichen Ort wie der deine«, antwortete er.
    »Dann habe ich diesen Jaguar nur geträumt, Don Juan? Dann

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