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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Aber nein! Mit Abstrahieren meine ich, daß wir uns dem Geist öffnen, indem wir uns seiner bewußt werden.«
    Besonders verhängnisvoll für uns Menschen sei der Zusammenhang zwischen Dummheit und Selbstbetrachtung, sagte er.
    Die Dummheit zwinge uns nämlich, alles beiseite zu schieben, was den Erwartungen unseres Selbstbildes widerspräche. Zum Beispiel sei der Durchschnittsmensch blind für die wichtigste Erkenntnis, die uns zuteil werden könne: nämlich, daß es einen Montagepunkt gibt und daß er sich bewegt.
    »Ein rationaler Mensch kann sich nicht vorstellen, daß es einen unsichtbaren Punkt gibt, wo unsere Wahrnehmungen zusammenmontiert werden«, fuhr Don Juan fort. »Und noch viel unvorstellbarer ist, daß dieser Punkt sich nicht im Gehirn befindet, wie wir erwarten sollten - falls wir uns seine Existenz überhaupt vorstellen könnten.«
    Weil der rationale Mensch so beharrlich an seinem Selbstbild festhalte, bleibe er im Grunde unwissend, fuhr Don Juan fort. Der rationale Mensch könne sich zum Beispiel nicht vorstellen, daß Zauberei gar nichts mit Beschwörungsformeln und Hokuspokus zu tun habe; daß sie die Freiheit sei, nicht nur unsere vertraute Welt wahrzunehmen, sondern alles, was uns Menschen zugänglich sei.
    »Hier aber wird die Dummheit des Durchschnittsmenschen gefährlich. Er fürchtet die Zauberei. Er zittert vor der Freiheit. Und dabei liegt die Freiheit greifbar vor ihm. Wir nennen sie den dritten Punkt. Und diesen dritten Punkt zu erreichen, ist nicht schwerer, als den Montagepunkt in Bewegung zu bringen.«
    »Aber vorhin sagtest du, es sei eine wirkliche Leistung, den Montagepunkt zu bewegen«, wandte ich ein.
    »Das ist es wohl«, beschwichtigte er mich. »Dies ist wieder mal ein Widerspruch der Zauberer. Den Montagepunkt zu bewegen - das ist sehr schwierig, und doch ganz leicht. Hohes Fieber kann genügen, wie ich dir sagte. Auch Hunger oder Angst, Liebe oder Haß können den Montagepunkt bewegen. Auch die Mystik, und auch die unbeugsame Absicht. Diese letztere ist die Methode der Zauberer.«
    Ich bat ihn, mir noch einmal zu erklären, was unbeugsame Absicht sei.
    Es sei eine Entschlossenheit, sagte er, wie manche Leute sie zeigten. Eine Zielstrebigkeit, ungehemmt durch widersprüchliche Wünsche und Interessen. Unbeugsame Absicht sei aber auch die überschüssige Kraft, die frei werde, sobald der Montagepunkt in einer anderen als seiner üblichen Position fixiert bleibe. Und dann erklärte mir Don Juan eine wichtige Unterscheidung, die ich all diese Jahre übersehen hatte. Nämlich die Unterscheidung zwischen einer Bewegung und einer Verschiebung des Montagepunkts. Eine Bewegung, sagte er, sei ein so extremer Positionswechsel, daß der Montagepunkt andere Energie-Bänder innerhalb des gesamten Spektrums unserer leuchtenden Energie anzapfen könne. Jedes Energie-Band stelle ein anderes Universum der Wahrnehmung dar. Eine Verschiebung des Montagepunkts hingegen sei eine geringfügige Bewegung innerhalb jenes Energie-Bandes, das wir als Alltagswelt wahrnehmen.
    Die unbeugsame Absicht sei für die Zauberer ein Katalysator, der ihre unwiderruflichen Entscheidungen auslöse. Vielleicht aber, meinte Don Juan, verhalte es sich auch umgekehrt: nämlich, daß die unwiderruflichen Entscheidungen der Zauberer einen Katalysator bildeten, der ihren Montagepunkt zu immer neuen Positionen treibe - zu Positionen, die wiederum eine unbeugsame Absicht weckten.
    Don Juan lachte über mein verdutztes Gesicht. Wollte man die symbolischen Schilderungen der Zauberer rational erklären, so sei dies ebenso sinnlos wie eine rationale Erklärung des stillen Wissens, sagte er. Das Problem liege in der Tatsache, daß jeder Versuch, die Schilderungen der Zauberer mit Worten zu erklären, diese noch verwirrender erscheinen lasse.
    Trotzdem bat ich ihn, mir diesen Sachverhalt zu erklären, so gut es eben ginge. Er solle mir alles sagen, was er wisse - zum Beispiel über den dritten Punkt. Denn obwohl ich alles verstünde, sei die ganze Angelegenheit doch sehr verwirrend für mich.
    »In unserer Alltagswelt haben wir zwei Bezugspunkte«, sagte Don Juan. »Wir denken in Gegensatzpaaren - wie hier und dort, innen und außen, oben und unten, gut und böse, und so weiter. Unsere Wahrnehmung unseres eigenen Lebens ist daher zweidimensional. Die Art, wie wir unser eigenes Tun wahrnehmen, hat keine Tiefendimension.«
    Ich warf Don Juan vor, zwei begriffliche Ebenen zu vermengen. Wenn er Wahrnehmung als eine Fähigkeit aller

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