Die Kreuzweg-Legende
etwa die Höhe eines ausgewachsenen Männerarms. Sie trug kein Jesuskind, wie man es oft sieht. Dafür hatte sie die schmalen Hände übereinandergelegt und vor die Brust gepreßt. Der Kopf war ein wenig zur linken Seite hingeneigt. Ich bückte mich, um den Ausdruck des Gesichts erkennen zu können. Er kam mir irgendwie leidend und dennoch gütig vor. Da sie aus einem schwarzen Material bestand, war auch der ihren Kopf umgebende Kranz schwarz. Wie die Stäbe eines Mikado-Spiels schwebten die Spitzen des Kranzes über dem sehr schmalen Haupt der beeindruckenden Figur. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Sir James. Er hatte mir noch mitgeteilt, daß die Figur einige hundert Jahre alt war. Nur wußte ich nicht, aus welch einem Material sie bestand. Das konnte ich trotz der brennenden Kerzen nicht erkennen.
Da man mich schon geholt hatte, würde man sicherlich nichts dagegen haben, wenn ich die Figur berührte. Ich streckte meinen Arm über das gespannte Seil und machte auch die Finger lang. Mit den Kuppen strich ich über den Corpus.
Ich hatte damit gerechnet, eine gewisse Kühle zu spüren, wurde diesbezüglich enttäuscht, denn das Material fühlte sich ungewohnt warm an.
Als ich leicht dagegen klopfte, hörte ich einen pochenden Klang. Anders als hätte ich gegen Stein geschlagen. So klang eigentlich nur ein Material.
Holz!
Das war es. Die Figur bestand aus Holz.
Ich zog meinen Arm wieder zurück, da ich über das gespannte Seil hinweg klettern und die Figur an mich nehmen wollte. Ein Bein hatte ich bereits über den Strick geschwungen, als ich mitten in der Bewegung verharrte. Den Blick hatte ich nie von der Madonna gelassen, deshalb sah ich auch sehr deutlich, daß sich in ihrem Gesicht etwas tat. Die Züge bewegten sich.
Unheimlich sah dies aus, denn in dem glatten Holz entstanden plötzlich kleine Falten und Gräben. Auch Runzeln und Kerben waren zu erkennen. Über die Wangen lief ein Zucken. Die Augen füllten sich mit einer dunklen Flüssigkeit, von der so viel in die Höhlen hineingedrückt wurde, daß dies überquoll und ihren Weg an den faltigen Wangen der Figur nach unten suchte.
Die Madonna weinte.
Ich schaute gebannt die Tränen an, wobei mir ein wahnwitziger Verdacht kam, den ich bestätigt haben wollte. Rasch zog ich auch den anderen Fuß nach, stand direkt vor dem Altar und fuhr mit dem angewinkelten linken Zeigefinger an der Figur von unten nach oben entlang. Die Flüssigkeit lief auf meinen Finger, den ich dicht vor meine Augen brachte und meinen Verdacht bestätigt sah.
Was sich da auf der Haut befand, war rote Masse.
Blut!
Die Madonna hatte Bluttränen geweint!
Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte das Gefühl, Essig getrunken zu haben, putzte das Blut an einem Taschentuch ab und beobachtete weiterhin die Madonna.
Sie weinte nicht nur, sie bewegte sich auch.
Der Kopf, vorhin hatte er noch leicht schief gelegen, richtete sich auf, wurde dabei zur rechten Seite gedrückt, um anschließend in kreisende Bewegungen zu geraten.
Dabei verzog sich das Gesicht noch mehr. Schmerz zeichnete sich auf den Zügen ab, den ich sogar in den noch mit Blut gefüllten Augen der Figur lesen konnte.
Aber die Bewegungen der Figur blieben nicht allein auf das Gesicht beschränkt. Jetzt löste die armlange Madonna auch die beiden zusammengelegten Hände, so daß die Arme nach unten fallen konnten und rechts und links ihres Körpers nach unten hingen. Die Hände zuckten.
Finger bewegten sich. Da wurden Fäuste gebildet, die sich wieder öffneten, und Haut vibrierte, als stünde sie unter Strom. Die Figur mußte Schreckliches erleben und durchmachen. Sie litt Qualen, denn auch die schmalen Lippen hatten sich geöffnet.
Ich lauschte, ob vielleicht ein Stöhnen aus ihrem Mund drang. Das war nicht der Fall. Noch blieb sie ruhig…
Aber ich vernahm ein anderes Geräusch. Es entsteht immer dann, wenn Holz zerrissen wird oder zersplittert. So auch hier, nur wesentlich leiser. Obwohl ich es noch nicht sah, wußte ich genau, worauf alles hinauslief. Die Figur würde vergehen.
Ich zuckte zurück, als sie von einem Moment zum anderen regelrecht explodierte. Der Corpus brach in der Mitte entzwei. Er bildete praktisch einen Scheitel, und aus der entstandenen Öffnung zuckte eine düstere Flamme, die die gleiche Länge bekam wie die Figur. So schnell wie sie hervorgefaucht war, fiel sie auch wieder zusammen. Gleichzeitig knackte es im Innern der Figur, und vor meinen Augen zerbröselte sie. Staub rieselte auf
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