Die Kreuzweg-Legende
so erschrecken, es sei denn, sie ahnten eine gewisse Gefahr.
Lange brauchte der Mönch nicht mehr auf eine Antwort zu warten, denn innerhalb der Nebelwand erschien ein Umriß.
Er kam. Es war tatsächlich eine Gestalt, die auf dem Rücken eines Pferdes saß. Beide waren dunkel, schwarz wie die Nacht. Den Mönch beschlich ein unheimliches Gefühl. Trotzdem wich er keinen Schritt zur Seite, blieb stehen und hob seinen rechten Arm.
Er wollte ihn stoppen und fragen, aus welch einem Grund er in dieser Morgenfrühe durch den einsamen Wald ritt.
Beinahe schien es so, als wollte der Mann auf dem Pferd den Einsiedler kurzerhand überreiten. Drohend und gewaltig tauchte er vor St. Immel auf, der sich instinktiv duckte, doch der Reiter bekam sein Tier in den Griff, riß an den Zügeln, so daß sich das Pferd auf die Hinterbeine stellte, wieherte und herumgezogen wurde.
Sicherheitshalber war St. Immel in Deckung gegangen. Hinter einem Baumstamm wartete er so lange ab, bis das Tier mit seinen vier Beinen wieder auf dem Boden stand.
Dann traute er sich hervor.
Kein Schnauben drang an seine Ohren. Die Stille war schon unnatürlich, und er wunderte sich darüber.
Auch der Fremde sagte keinen Ton. Er hatte sich ein wenig zur Seite gebeugt, so daß er in das Gesicht des Einsiedlers schauen konnte, als dieser den Kopf in den Nacken legte.
St. Immel war sprachlos. Er starrte die unheimliche schwarze Erscheinung auf dem Pferderücken an, stellte fest, daß der Reiter einen breitkrempigen Hut trug, sich darunter aber kein richtiges Gesicht abzeichnete, sondern ein düsteres, wallendes, nebeiförmiges Gebilde. Und der Mönch spürte die gefährliche Aura, die von dieser Person auf dem Pferderücken ausging. Es war ein Hauch, der nach Tod, Hölle und Vernichtung roch.
St. Immel ging zurück. Automatisch tastete seine rechte Hand nach dem Kreuz an seiner Seite. Er nahm es zwischen die Finger und hielt es in die Höhe.
Im selben Augenblick zog der andere seinen Degen. Aus den wallenden Nebelschleiern drang die Klinge hervor, pfiff durch die Luft und hätte St. Immel fast noch erwischt, wäre dieser nicht zur Seite gesprungen. So fauchte die Degenklinge an ihm vorbei und hackte in die dicke Rinde eines Baumes, wo sie einige dicke Stücke abschlug. Der Reiter lachte gellend.
St. Immel, der das Kreuz hochhielt, vernahm dieses Lachen und wußte Bescheid.
»Du bist der Teufel!« schrie er den Reiter an. »Du bist der Satan, du Höllenherrscher. Flieh in die ewige Finsternis. Ich befehle es dir im Namen des Herrn!«
Der schwarze Reiter hörte die Worte. Ein schauriges Gelächter drang aus seinem Mund. Er beugte sich vor, schwang seine Degenklinge, so daß die Luft fauchend zusammenschlug und der Nebel zu Fetzen wurde.
»Ich kriege dich noch!« brüllte er. »Dein Kreuz schreckt mich nicht. Aber ich muß weg! Doch ich komme wieder…«
Er gab seinem Pferd die Sporen und schlug hart in die Flanken des Tieres, das aufwieherte, startete und mit voller Karriere den weiteren Weg hochschoß.
Wie ein Phantom verschwand der unheimliche Reiter in der grauen Nebelwand und wurde von ihr verschluckt.
Noch einmal lachte er auf.
Für St. Immel hörte es sich an wie ein Gruß vom Teufel. Er preßte das Kreuz gegen seine Lippen und murmelte Gebete. Sie taten ihm gut, denn er spürte, wie der Schock wich und und er wieder klar durchatmen konnte. So etwas war ihm noch nie passiert. Hatte er geträumt? Er schaute auf den Baum und sah die Stelle, wo die Degenklinge die Rinde abgefetzt hatte. Das war der Beweis!
St. Immel schüttelte den Kopf. Auf einem fauligem Baumstumpf ließ er sich nieder und dachte nach. Von irgendwoher mußte der Reiter gekommen sein. Lange überlegte er nicht, denn ihm fiel plötzlich ein, welche Geschichte man sich in der näheren Umgebung erzählte. Die Menschen glaubten fest daran. Er hatte darüber gelächelt. Nun war er zu einer anderen Meinung gelangt. Die Kreuzweg-Legende schien Wirklichkeit geworden zu sein.
***
Wir fuhren nicht, sondern blieben stehen. Im Wagen war es angenehm kühl, dafür sorgte eine Klimaanlage.
Der polnische Diplomat namens Wolstinski war ein älterer Mann mit schütteren grauen Haaren. Sie waren in der Mitte gescheitelt. Die Gesichtsfarbe des Mannes erinnerte mich an die ungesunde Blässe der Büromenschen. Er saß links neben mir und fragte mit leiser Stimme:
»Was haben Sie erlebt, Mr. Sinclair?«
Bevor ich eine Antwort gab, schaute ich an ihm vorbei zu meinem Chef, Sir James. Der nickte
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