Die Kreuzzüge
Kreuzzugsenthusiasmus allmählich nachließ, ein Missstand, der angeblich auf die päpstlichen Machenschaften und die Verwässerung des »Ideals« zurückzuführen war. Das greift zu kurz. Es gab zwar im 13. Jahrhundert nicht mehr solche Massenaufbrüche wie in der Zeit zwischen 1095 und 1193, doch eine ganze Reihe von Unternehmungen kleineren Umfangs hatte nach wie vor stattlichen Zulauf, sogar dann noch, als sie gegen andere Feinde und zu anderen Konfliktschauplätzen dirigiert wurden. Wenn überhaupt, dann zeichnete sich ein Rückgang in der unmittelbaren Anteilnahme des lateinischen Europas am Schicksal des Heiligen Landes ab, doch auch dieser offensichtliche Rückgang darf nicht überbewertet werden. Die gewaltigen Aufbrüche des 12. Jahrhunderts waren ja ihrerseits Reaktionen auf immense Erschütterungen wie den Untergang Edessas und die Schlacht von Hattin; ansonsten schenkten die abendländischen Christen den Hilferufen aus Outremer häufig nur wenig Gehör. Die Probleme und Sorgen im eigenen Land, von Nachfolgestreitigkeiten und dynastischen Rivalitäten bis hin zu Missernten und Ketzerbewegungen, drängten nur allzu schnell die Notlage der hart umkämpften Kreuzfahrerstaaten in den Hintergrund. So faszinierend das Schicksal des Heiligen Landes und Jerusalems auch erscheinen mochte, zeigt doch die Geschichte der Kreuzzüge, dass die meisten Lateiner im Abendland sich nicht in einem andauernden Zustand der Sorge um die Ereignisse im Orient befanden und daher auch nur selten bereit waren, ihr Leben daheim hinter sich zu lassen, um einen weit entfernten Ort zu retten, und sei er noch so heilig.
Schließlich beeinflusste ein anderer, höchst pragmatischer Umstand den Ausgang des Kampfes um den Vorderen Orient. In den Köpfen der Menschen ebenso wie geographisch war die Levante von Westeuropa schlicht sehr weit entfernt. Christen, die in Frankreich, in deutschen Ländern oder in England lebten, hatten Reisen von mehreren tausend Kilometern auf sich zu nehmen, um ins Heilige Land zu gelangen. Es waren die riesigen Entfernungen, die es so schwierig machten, Feldzüge zu organisieren oder auch nur regelmäßigen Kontakt mit den lateinischen [711] Ansiedlungen im Orient zu halten. Ein Vergleich, der in manch anderer Hinsicht natürlich unzutreffend ist, bietet sich hier an: Die andere große territoriale Auseinandersetzung zwischen Lateinern und Muslimen, die sogenannte spanische Reconquista, ging für die Christen zumindest teilweise deshalb siegreich zu Ende, weil die Iberische Halbinsel sich in größerer geographischer Nähe zum übrigen Europa befindet. Ansatzweise wurde die Situation in Outremer durch die Entstehung und Ausbreitung der Ritterorden als übernationaler Organisationen sowie durch die immer enger werdenden Handelskontakte innerhalb des Mittelmeerraums erleichtert, doch konnte die Kluft zwischen Europa und Outremer am Ende nie geschlossen werden. Gleichzeitig gelang es den Franken in der Levante nicht, mit den ortsansässigen orientalisch-christlichen Verbündeten umfassend oder zumindest effektiv zu kooperieren, seien es nun die Christen des Byzantinischen Reiches, die kilikischen Armenier oder andere, die es vermocht hätten, die Isolation der Franken aufzubrechen; stattdessen verstrickten sie sich in zahllose interne Machtkämpfe.
Aus all diesen Gründen befand sich Outremer für einen Großteil des 12. und 13. Jahrhunderts in einem prekären Zustand der Verwundbarkeit. Aber trotz allem brauchte auch der Islam sehr viel Stärke und begünstigende Umstände, um die Schwäche der Franken ausnutzen zu können. Die Kreuzzugskriege wurden nicht in erster Linie im politischen oder kulturellen Kernland des Islams ausgetragen, sondern in der Grenzzone zwischen Ägypten und Mesopotamien, aber auch im Heiligen Land selbst siedelte ja keineswegs eine einheitliche muslimische Gesellschaft. Dennoch profitierte der Islam letztendlich von der geographischen Nähe des Kriegsschauplatzes Levante und von der unleugbaren Tatsache, dass der Krieg gewissermaßen auf heimischem Boden ausgetragen wurde. Während dieser langen Kriegsphase kamen der muslimischen Welt außerdem die kluge und charismatische Führung Nur ad-Dins und Saladins zugute sowie die schonungslose Unbarmherzigkeit von Baibars. 3
[712] AUSWIRKUNGEN AUF DIE WELT DES MITTELALTERS
Die Kreuzzüge wurden immer wieder als internationaler Flächenbrand beschrieben, der die Welt von Grund auf neu gestaltete: Europa wurde durch sie aus dem finsteren
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