Die Kreuzzüge
muslimischen Vorderen Orient hatten weit über das Jahr 1291 Bestand, und Zypern blieb bis ins späte 16. Jahrhundert hinein unter fränkischer Herrschaft. Die Levante selbst war auch weiterhin Ziel und Austragungsort heiliger Kriege. Seit den 1290er-Jahren wurden in Europa zahlreiche detaillierte Abhandlungen mit unterschiedlichen Plänen und Methoden zur Rückeroberung Jerusalems verfasst. Man erwog neue Strategien für Feldzüge in den Vorderen Orient, einige davon wurden auch umgesetzt, und ein Kreuzzug gipfelte gar in der kurzen Einnahme des ägyptischen Hafens Alexandria im Jahr 1365. Während des gesamten 14. Jahrhunderts und darüber hinaus erfolgten noch zahlreiche Aufrufe zu Kreuzzügen, und es wurde Krieg geführt, etwa gegen Ketzer, gegen die Osmanen und gegen die politischen Gegner des Papstes. Der Orden der Tempelritter wurde 1312 aufgelöst; eine habgierige französische Monarchie hatte Anschuldigungen wegen Unterschlagungen und sexueller Verfehlungen laut werden lassen, andere Ritterorden jedoch überdauerten das Mittelalter. Die [705] Johanniter gründeten neue Hauptniederlassungen, zuerst auf Zypern, dann auf Rhodos und später auf Malta, während die Deutschordensritter im Baltikum einen eigenen Ordensstaat gründeten. Kein Kreuzzug jedoch erhob je wieder die Forderung, Jerusalem solle an die Christen übergeben werden, und der Islam blieb in der Levante bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein an der Macht. 1
GRÜNDE UND FOLGEN
Zunächst ist festzustellen, dass die Kreuzzüge von Seiten der Christen mindestens zu gleichen Teilen Angriffs- wie Verteidigungskriege waren. Es trifft sicher zu, dass vom Islam im 7. Jahrhundert ohne vorausgehende Provokationen eine Invasions- und Angriffswelle ausgegangen war, doch der ursprüngliche Furor dieses Ansturms war schon längst abgeflaut. Der Aufruf zum ersten Kreuzzug war nicht die Reaktion auf eine überwältigende akute Bedrohung oder einen kürzlich erlittenen katastrophalen Verlust. Jerusalem, das explizite Ziel des Feldzugs, war von den Muslimen gut vier Jahrhunderte zuvor eingenommen worden; von einer akuten Kränkung konnte also keine Rede sein. Die Vorwürfe, christliche Bürger oder Pilger seien von den islamischen Herrschern der Levante systematisch oder in großem Ausmaß misshandelt worden, waren wohl weitgehend unbegründet. Nach dem offenkundig wunderbaren Erfolg des ersten Kreuzzugs und nach der Gründung der Kreuzfahrerstaaten wurde der Krieg um das Heilige Land in zyklisch neu auflebenden Schüben von Gewalt, Vergeltung und Rückeroberungen fortgeführt, in denen sowohl Christen als auch Muslime Akte wüstester Brutalität begingen.
Ein Konflikt ohnegleichen?
Zwei Jahrhunderte lang wirkten unterschiedliche Kräfte zusammen, die diesen Kampf schürten und am Leben hielten, angefangen beim Ehrgeiz der Päpste, für Rom den »gottgewollten« kirchlichen Primat durchzusetzen, bis hin zu den Wirtschaftsinteressen italienischer Händler; von sozialen Verpflichtungen und Lehnstreue bis zu einer sich allmählich herausbildenden Ritterethik. Führende Persönlichkeiten – seien es nun Muslime oder Christen, weltliche oder geistliche Herren – bekamen ein [706] immer deutlicheres Bewusstsein dafür, dass mit den Idealen des heiligen Krieges Zentralisierungs- und Militarisierungsprogramme zu rechtfertigen waren, ja dass mit ihrer Hilfe sogar autokratische Regime durchgesetzt werden konnten. In dieser Hinsicht glichen die Kriege der Kreuzfahrer einem Muster, das in vielen Phasen der Menschheitsgeschichte auftaucht: dem Versuch, Gewalt vorgeblich für ein höheres, der Allgemeinheit dienliches Gut einzusetzen, das doch letztlich nur die Interessen der herrschenden Eliten bedient.
Im Fall der lateinisch-christlichen Kreuzzüge und des islamischen Dschihads jedoch hatte dieses »öffentliche« Wohl auch immer eine zwingende religiöse Dimension. Das schloss Akte rohester Gewalt oder erbitterte Feindschaften zwar nicht unbedingt aus. Allerdings hatte es
zur Folge, dass viele Teilnehmer am Kampf um die Macht im Heiligen Land zutiefst überzeugt waren, dass ihr Handeln eine religiös-spirituelle Dimension hatte. Päpste wie Urban II. und Innozenz III. formulierten Kreuzzugsaufrufe, um ihre Autorität zu bekräftigen, aber auch, weil sie hofften, sie könnten damit den Christen einen Weg zum Heil weisen. Den Kreuzfahrern, die von Venedig aus aufbrachen, ging es sicher einerseits um irdischen Gewinn, doch wie die anderen Teilnehmer an diesen heiligen
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