Die Krone der Macht
Die Krone der Macht
von Gabriel Galen
1. Der Raub der Krone
Seit Tagen schon summte die Stadt wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Die vier Tore der Stadtmauer – sonst bei Einbruch der Nacht sorgfältig ve rschlossen – blieben bis zu später Stunde geöffnet, um den Strom der vollgeladenen Lastfuhren herein- und leer wieder hinausrollen zu lassen. Fußgänger, Reiter und Gefährte aller Art hasteten durcheinander in geschäftiger Eile, doch selbst wenn sie im Gedränge aneinander gerieten, hörte man keine harten Worte. Im Gegenteil, die Leute lachten, halfen sich gegenseitig, das Gewirr zu entflechten, und die Flüche aus rauen Fuhrmannskehlen waren von freundlichem Grinsen begleitet. Aus allen Schänken erschallte fröhliches Gelächter und Gesang, und man erblickte Trachten und Gesichter aus allen Teilen des Reiches. Seeleute und Matrosen, deren Schiffe im Hafen ankerten und Flaggen der unterschiedlichsten Herkunft zeigten, spannen ihr Seemannsgarn im Kreis staunender Zuhörer. Wo sich ein ungestörtes Plätzchen bot, spielten Musikanten auf oder zeigten Gaukler ihre Künste – kurzum – das fröhliche, bunte Durcheinander in den mit Blumen und Bändern geschmückten Straßen und Plätzen konnte nur eines bedeuten: Die Stadt Ellowa bereitete sich auf ein großes Fest vor, das in drei Tagen beginnen sollte:
Sarja, Thronfolgerin und einzige Tochter der herrschenden Königin Maridor, vollendete zu Beginn des Festes ihr zwanzigstes Jahr – ein besonderer Geburtstag, denn an diesem Tag würde sie von ihrer Mutter in die Geheimnisse der „Krone der Macht“ eingeweiht werden. Dieses Kleinod war seit Menschengedenken das Herrschersymbol der Könige von Ellowin, doch nur bei der Krönung eines neuen Regenten wurde die Krone dem Volk gezeigt. Ansonsten lag sie verborgen und streng bewacht in der Schatzkammer des Schlosses, nur dem jeweiligen Herrscher zugänglich. Denn es hieß, solange sich die Krone im Besitz des rechtmäßigen Königs von Ellowin befände, könne kein Feind das Land besiegen und es würde in Frieden und Wohlstand gedeihen.
Doch große Gefahr, Not und Elend würden Ellowin drohen, sollte jemals ein Unbefugter seine Hand auf die Krone legen.
Doch an all dies dachte heute keiner in Ellowa. Die Vorfreude auf das Fest leuchtete aus allen Gesichtern, und Alt und Jung bemühte sich nach Kräften, alles für den großen Tag zu richten.
Kaum einer schenkte darum den sechs Gestalten einen Blick, die – in lange Mäntel gehüllt, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen – durch die verschiedenen Tore der Stadt hineingekommen waren. Auch ihrem Schiff, das abseits der anderen im Hafen ankerte, zollte niemand Beachtung.
Vielleicht hätten die seltsamen Fremdlinge mehr Aufsehen erregt, wenn sie z usammen die Stadt betreten hätten, aber so fiel der Einzelne im bunten Gedränge nicht auf. Und schaute doch einmal jemand in eines der beschatteten Gesichter, schauderte er zurück vor dem Blick der kalten, wie starr wirkenden Augen. Doch sobald er sich wieder abwandte, schien die Erinnerung an das Gesehene wie ausgelöscht.
Die sechs Unheimlichen jedoch schienen ein gemeinsames Ziel zu haben. Kurz nachdem die Sonne untergegangen war und die Straßen sich allmählich leerten, strebten die verhüllten Gestalten auf die Nordseite der Palastmauer zu, wo ein kleines Gehölz mit dichtem Buschwerk bis dicht an die Mauer heran wuchs. An einer kleinen, verborgenen Pforte trafen die Vermummten zusammen. Der Schein einer abgeblendeten Lampe fiel kurz auf die rostigen Angeln des Törchens. Eine der Gestalten trat vor und murmelte unverständliche, rau klingende Worte. Dabei legten sich ein paar bleiche, lange Hände mit krallenartigen Nägeln auf das Schloss. Ein helles, sirrendes Geräusch erklang und der Riegel sprang auf. Eine weitere Berührung der rostigen Angeln ließ die Tür lautlos aufschwingen. Das schwache Licht der abgedeckten Laterne zeigte dahinter einen niedrigen Gang, der ins Schloss führte. Eine nach der anderen verschwanden die sechs dunklen Gestalten im Gang. Wie von Geisterhand schloss sich hinter dem Letzten lautlos die Pforte.
*****
In der Bibliothek des Schlosses brannte ein helles Feuer im Kamin. Ein alter Diener legte noch einige Scheite nach und zog sich dann leise zurück.
In einem bequemen Sessel dicht beim Feuer saß eine schöne Frau mit schwa rzen Haaren, in die die Jahre bereits die ersten grauen Fäden eingewoben hatten.
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