Die Kunst des guten Beendens
Erfahrungen maßgeblich beeinflusst. Im zweiten, dritten Lebensjahr wird mit der Entwicklung der Sprache ein zunehmendes Erkennen von seelischen Zuständen bei sich und anderen möglich. Es ist die Voraussetzung für die Entstehung von Dreierbeziehungen (Triade von Mutter – Vater – Kind). Entwicklungspsychologisch bahnt das Etablieren einer psychischen Triade in der inneren Erlebniswelt den Weg in alle nachfolgenden sozialen Beziehungen.
Bei der unsicheren, insbesondere bei der unsicher-desorganisierten Bindung, kann das Kind der anderen Person keine unabhängige seelische Existenz zubilligen, weil die Angst zu groß ist. Damit wird die Entwicklung der reflexiven, symbolisierenden Funktionen gestört. Im späteren Leben werden in der Regel schwere Pathologien festgestellt. 14
Ein wichtiger Teil der Entwicklung der reflexiven Funktion ist die Regulierung der Affekte wie Ärger, Zorn, Wut undVerzweiflung. Beim sicheren Bindungsmuster lässt sich das Kind von seinen Affekten leiten. Bei der unsicheren-ambivalenten Bindung wird das Kind vom Affekt beherrscht. Bei der unsicheren-vermeidenden Bindung beherrscht das Kind den Ausdruck seiner Affekte, allerdings auf Kosten seiner eigenen Entwicklung. Bei der unsicher-desorganisierten (auch unsicher-verstrickten) Bindung dominieren Angst und Abwehrvorgänge. Wichtig ist zu wissen, dass leichtere oder schwerere Bindungsstörungen aus der frühen Kindheit auch im Erwachsenenalter weiterbestehen können, Störungen, die sowohl das Bindungs- als auch das Trennungsverhalten beeinträchtigen. Wenn es diesen frühen Schatten von kindlichen, vorbewussten und vorsprachlichen Bindungserfahrungen gibt, der auf aktuelle, erwachsene Bindungen fällt, mag es notwendig sein, dem frühen Erleben nochmals nachzugehen. Das wird uns weiter beschäftigen.
Die Fähigkeit, zu beenden, wird von frühen Bindungserfahrungen geprägt
Man kennt einen Menschen nur dann wirklich,
wenn man seine Kindheit kennt.
Georges Simenon
Immer wieder die Kindheit? Natürlich kommen Menschen mit einem Problem ihres Erwachsenenlebens in die Therapie, meistens bei einer Kumulation der Probleme in privaten Beziehungen und bei der Arbeit. Diese Probleme wollen gelöst werden. Doch im Laufe der Arbeit kommt in den meisten Fällen die Kindheit direkt oder indirekt ins Spiel, die bewusst erlebte und die unbewusste, frühe. Sie wirft ihr Licht und ihre Schatten auf ein Erwachsenenleben. Allerdings ist es nach erfolgter Bearbeitung ein milderer Schatten, ein helleres Licht. Es werden neue Entwicklungen möglich, wenn die Kindheitsprägung zuvor bearbeitet werden konnte.
Ob wir es wollen oder nicht, wir sind in Kreisläufe des Beendens und Beginnens eingebettet. Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen und damit auf Beziehungen zu anderen angewiesen. Die neuere Säuglingsforschung betont, dass sich Mutter und Kind gemeinsam in einem Prozess befinden, bei dem sie sich auf subtile, hochwirksame Weise wechselseitig beeinflussen. 15 In den ersten Lebenswochen gibt es für das Neugeborene noch keinen Unterschied zwischen ihm selbst und seiner Umgebung. Und es gibt keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Die ersten Spuren einer Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich zeigen sich im zweiten Lebensmonat.
Eine zu große Distanz (durch Vernachlässigung, durch eine depressive Mutter etc.) in jener Zeit, in der der Säugling auf symbiotische Verschmelzung angewiesen ist, erleben die späteren Erwachsenen als Gefühl eines ›schwarzen Lochs‹, eines innerlichen Abgrundes bzw. einer inneren Leere, einer tiefen Angst, emotional verlassen zu werden. 16 Ein Leben lang können sich früh vernachlässigte Menschen nach der Geborgenheit sehnen, die sie in der Mutter-Kind-Beziehung vermisst haben. Von Bedeutung sind nicht nur die tatsächlichen Beziehungen des Kindes zu seinen ersten Bezugspersonen, sondern die Erfahrungen, die in jener Zeit in ihm ausgelöst wurden. Auch wenn eine Mutter, ein Vater, die Eltern ihr Bestes tun, kann sich ein Kind vernachlässigt oder überfordert fühlen; beides kann als Verlassenheit erlebt werden.
Die frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen prägen das Selbsterleben und die Art der Beziehungsgestaltung. In den ersten drei Lebensjahren erwerben Kinder – oder sie erwerben sie eben nicht – die Fähigkeit, sich einerseits zu binden und anderseits Trennungen zu überstehen und zu bewältigen. Wenn ein Mensch in seiner frühen Kindheit keine positiven Beziehungsqualitäten erfahren
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