Die Kunst des guten Beendens
Sinn von Beenden-Können muss einleuchten, dann kann es erlernt und umgesetzt werden. Ein Mensch nimmt sein Schicksal in die eigenen Hände. Er übernimmt die Verantwortung für sein eigenes Leben und projiziert die Erfüllung nicht auf andere Menschen.
»Es ist genug«, »Ich kann nicht mehr« oder »So geht es nicht mehr weiter« oder »Meine Kräfte verlassen mich«, »So kenne ich mich nicht mehr«: das alles sind Signale, die auf die Notwendigkeit hinweisen, dass etwas beendet werden muss. Oder es handelt sich um Wünsche und Bedürfnisse, die nicht weiter aufgeschoben werden dürfen, wenn ein Mensch nicht krank werden soll. Irgendetwas ist zu viel. Und um ein Zuviel angehen zu können, sind innere und äußere Beendigungen notwendig. In langsamen, inneren Prozessen kann ein Mensch zu verstehen suchen, wie es so weit kommen konnte. Das innere Gewahrwerden geht jeder äußeren Veränderung voraus, es sei denn, jemand stecke in einer destruktiven, selbstschädigenden Situation. Dann geht das äußere Beenden vor. Es gibt Lebenssituationen, in denen ein Beenden notwendig wird – aus der Not gewendet. Doch es kann sehr lange dauern, bis dies erkannt wird, selbst wenn die Not groß ist. Dazu zwei Beispiele:
Anna: Sie ist eine 40-jährige Frau, berufstätig, allein erziehende Mutter eines 10-jährigen Sohnes. Sie kommt in dieTherapie, und ihre große Überlastung und Verzweiflung sind deutlich spürbar. Sie ist seit zwei Jahren mit einem Mann in platonischer Beziehung zusammen. Das platonische Element ist sein Anliegen, er könne nicht anders. Anna liebt ihn und macht ihm regelmäßig Szenen, weil ihr Berührungen, Umarmungen und Sexualität fehlen. Sie kritisiert sich, dass sie ihrem Sohn keine Familie bieten kann. Im Beruf lässt sie sich schikanieren, ausnützen und kann sich nicht abgrenzen. In jede Stunde kommt sie mit neuen Katastrophenmeldungen aus dem privaten und beruflichen Bereich. Sie fühlt sich rundum im Chaos.
Werner: Er ist vierzigjährig, allein lebend, nach längerer Arbeitslosigkeit wieder berufstätig. Doch auch die neue Stelle befriedigt ihn nicht. In seiner letzten Beziehung hat sich die Frau von ihm zurückgezogen und ihm erklärt, sie liebe ihn nicht mehr als Mann, wolle aber mit ihm befreundet bleiben. Er hängt verzweifelt an dieser Frau, wissend, dass die Beziehung sehr schwierig bis unmöglich war. Er versucht über Monate, die Liebe dieser Frau wiederzugewinnen, erfolglos. Er ist verzweifelt und redet stundenlang über seine große Sehnsucht nach dieser Frau. Seine Lebensenergie ist blockiert. Werner ist verzweifelt und hilflos.
Anna und Werner stecken je auf eigene Weise in ihrem Leben fest und leiden sehr darunter. Jeder Tag bringt neue Enttäuschungen, neue Kränkungen und Entwertungen. Ein Teufelskreis. Sie spüren beide, dass ihre Kräfte nachlassen. Die Sorgen stehen ihnen ins Gesicht geschrieben.
Beide sind im mittleren Alter und weder persönlich noch beruflich in einer befriedigenden Situation. Im mittleren Alter wiegen solche Krisen schwer und können Torschlusspanik auslösen. Es ist schwierig, am besseren Verständnis schwieriger Lebenssituationen zu arbeiten, wenn täglich neue Verletzungen geschehen. In den Beispielen von Anna und Werner scheint es auch unmöglich, die Sehnsucht nach dem geliebten Menschen zu beenden, der sich einem fortwährend entzieht. Die blockierte Situation erfordert eine Veränderung, aber welche?
Beenden kann im besten Fall Trennung, Abschied und Loslassen beinhalten. Im Wort beenden liegt das »Ende« und das »enden« drin: etwas bewusst zu einem Ende bringen, abschließen, um wieder in Bewegung zu kommen. Beenden als Entblockierung und wieder in Gang setzen von Entwicklung und Wachstum. Anna und Werner bemühen sich nach Kräften, ihre Situation zu verbessern. Das allein genügt offenbar nicht. Dann ist ein tieferes Verstehen dessen nötig, was diese Frau und diesen Mann in diese Situation gebracht hat bzw. welche ihre frühen Bindungs- und Trennungserfahrungen sind.
Anna ist als Einzelkind südeuropäischer Arbeitsmigranten in der Schweiz aufgewachsen. Ihre Eltern arbeiteten hart. Anna war viel allein, eingeschlossen in der kleinen Wohnung, ohne Kontakt zu Gleichaltrigen. Es herrschte ein fremdenfeindliches Klima in der Schweiz. Anna erlebte hautnah die Demütigungen, die ihre Eltern an ihrem Arbeitplatz und im Leben einzustecken hatten, und sie erlebte auch deren Angst, die in eine Überanpassung führte. Diese Angst prägt bis heute auch
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