Die Kunst des guten Beendens
Anna. »Nur ja nicht auffallen« war und ist die Devise. Wir können uns die frühen Jahre von Anna als eine Zeit der Angst und Entbehrung, der Deprivation, der Unsicherheit und Anpassung vorstellen. Das hat ihre Persönlichkeit geprägt; sie ist unsicher, ängstlich, abhängig. Sie sehnt sich nach dem, was sie nicht haben kann. Gleichzeitig hat sie vieles geschafft: sie ist berufstätig und erzieht ihren Sohn. Doch ihr Gefühl bleibt, dass das Leben an ihr vorbeigeht. Ihre Liebeswünsche sind unerfüllt.
Werner ist mit einem jüngeren Bruder in einer Mittelschichtfamilie aufgewachsen, mit einer ängstlichen Mutter und einem Vater, der viel weg war und Beziehungen zu anderen Frauen hatte. Werner hat früh seine eigenen Vorstellungen vom Leben entwickelt, die ganz anders waren als jene der Eltern. Er wollte Musiker werden und ein ungebundenes Leben führen. Er fühlte sich immer anders als seine Eltern, anders als sein Bruder. Er will mehr vom Leben als sie, und das möchte er ihnen beweisen.
Mit vierzig Jahren beginnt mit der Arbeitslosigkeit und der unerfüllten Liebe eine tiefe Krise. Nun interessiert er sich für das Leben seiner Eltern. Er will mit ihnen, die er immer ein bisschen verachtet hat, zu einem Frieden kommen. Es tauchten Erinnerungen daran auf, dass die Mutter Antidepressiva schluckte. Werner sieht noch heute vor seinem inneren Auge die Tablettenpackungen und das Glas Wasser in der Wohnung stehen. Seine Mutter war durch ihre Depression über lange Jahre emotional kaum für ihn verfügbar. Der Vater ging seine eigenen Wege. Werner beginnt sich zu fragen, ob in der Sehnsucht nach seiner verlorenen Freundin die kindliche Sehsucht nach seiner damals verlorenen Mutter steckt. Heute sind ihm die Eltern zugewandt. Sie erzählen von sich und hören ihm zu. Doch die frühe Wunde schmerzt noch immer und bewirkt, dass er sich an die verlorene Liebe anklammert.
Langsam werden Annas und Werners Sehnsüchte nach dem Unerreichbaren verständlich. Beide sind mit Entbehrungen aufgewachsen. Die Sehnsüchte, die von früh an da waren, konnten über lange Jahre hinweg kompensiert werden. Und dann ging es in der Mitte des Lebens auf einmal nicht mehr. Die Lebensmitte stellt neue Aufgaben. Sie ist eine Zeit der Bilanz dessen, was bisher möglich war und was man nun noch möchte im Leben. Das vermag große Angst, ja Panik auszulösen, die die frühkindlichen Ängste wieder neu und akut zum Leben erweckt. In der Mitte des Lebens begehrt ein Mensch anders als an der Schwelle des Erwachsenenlebens. Beginnen und beenden stehen in einem anderen Licht. Es macht Sinn, wenn von der Krise der Lebensmitte gesprochen wird. Bindungs- und Trennungserfahrungen wollen neu geordnet werden.
Anna bewirbt sich mit erwachendem Selbstbewusstsein für eine neue Stelle. Sie wird angenommen und wird in ihrer neuen Arbeit glücklich. Ihr Sohn gedeiht. Sie verliebt sich. Ihre Familienwünsche erwachen neu und gehen mit großen Verlustängsten einher. Nach wenigen Monaten zieht sich der Mann zurück. Er will keine verpflichtende Beziehung. Nach kurzer Zeitwiederholt sich dieselbe Situation mit einem anderen Mann. Anna ist verzweifelt. Mit der Zeit kann sie ihre übergroße Anklammerung in Beziehungen erkennen und sie kritisch betrachten. Sie hat immer versucht, die Männer entsprechend ihrer immensen Sehnsüchte und Ängste zu formen. Nun beginnt sie sich ihren inneren Konflikten zuzuwenden und erkennt, dass sie sich selbst finden und sich selbst lieben möchte. Ihre berufliche Zufriedenheit verleiht ihr ein besseres Gefühl ihrer selbst. Die Sehnsucht nach einem verlässlichen Partner begleitet sie weiter, und sie trauert darum, dass ihr die Liebe (noch) nicht gelingt.
Werner ist zutiefst erschöpft, depressiv und wieder arbeitslos. So kann er auch die Sehnsucht nach der verlorenen Liebe nicht mehr halten. Er lässt sich in die Klinik einweisen. Hier beginnt eine intensive Erforschung seiner Sehnsüchte und Ängste. In seinen Alpträumen versinkt er lange Zeit in tiefen Schlünden. Dann kommt er ganz unten im Abgrund an und beginnt Boden zu spüren. In dieser Zeit sind ihm die Gespräche mit den Eltern und Schwestern ganz wichtig. Im Kontakt mit den Mitpatienten erkennt er seine sozialen Fähigkeiten. Durch ein Klavier in der Klinik knüpft er an seine musikalischen Träume wieder an, erfolgreich. Er beginnt ganz sachte die Hoffnung zu entwickeln, in den kommenden Monaten wieder Fuß zu fassen in seinem Leben.
Wenn nichts mehr geht, macht sich
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