Die Kunst des guten Beendens
beenden. Die Ernte kann eingefahren werden. Der schließlich leichte, dankbare Abschied war ihr nicht in den Schoß gefallen. Wie es einmal ein Künstler ausgedrückt hat: Die Kunst eines Werkes liegt im Glanz und Klang der Vollendung, die die vorangegangenen Schmerzen nicht mehr fühlen lässt.
Äußerliches und inneres Beenden stehen in einem Wechselverhältnis. Etwas, was (noch) befriedigend erlebt wird, kann intuitiv einen Beendigungsprozess erforderlich machen. Innerlichen Schritten folgen äußerliche, die wiederum ein innerliches Echo ermöglichen.
Ein Gymnasiallehrer in einer Schweizer Stadt verlässt intuitiv, impulsiv, inmitten einer Unterrichtsstunde in Latein, seine Schulklasse und sein Schulhaus ohne eine Erklärung. 9 »Gregorius wandte sich um und ging langsam in RichtungKirchenfeldbrücke. Als die Brücke in Sicht kam, hatte er das sonderbare, ebenso beunruhigende wie befreiende Gefühl, dass er im Begriff stand, sein Leben im Alter von siebenundfünfzig Jahren zum ersten Mal ganz in die eigenen Hände zu nehmen.« Später am Tag besteigt er den Nachtzug nach Lissabon. In dieser Stadt ergibt sich für ihn eine ganze Abfolge von weiteren Abschieden, die ihn sein plötzliches Weggehen langsam erklären lassen. Er schreibt einen Abschiedsbrief an den Rektor und bangt um die Antwort. Er lässt sich von einer früheren Schülerin Bücher schicken und versichert ihr immer wieder, dass er glücklich sei am neuen Ort. Er versucht sich seine Schüler der letzten Jahrzehnte zu vergegenwärtigen, was ihm nicht ganz gelingt. Er geht stundenlang in Lissabon spazieren, damit er seine Ankunft und seine Veränderung spüren kann. Und er versucht immer wieder neu, nicht dem Wunsch nachzugeben, noch am selben Abend einen Rückflug zu buchen. Er probt Abschied und Neuanfang, und der Schluss des Buches lässt offen, ob es ihm schließlich gelungen ist.
»Um von etwas Abschied nehmen zu können, musste man ihm (dem Abschied) auf eine Weise entgegentreten, die inneren Abstand schuf. Man musste die unausgesprochene, diffuse Selbstverständlichkeit, mit der es einen umfangen hatte, in eine Klarheit verwandeln, die erkennen ließ, was es einem bedeutete.« Gregorius spürte eine »neue Art von Wachheit, eine neue Art, in der Welt zu sein, von der er bisher nichts gewusst hatte«.
Und jedem Menschen in Lissabon, dem er seine Geschichte vom Verlassen des Klassenzimmers erzählte, bringt er eine etwas andere Version bei. Das war seine Art des Abschiednehmens und Beendens. Gregorius musste sein Weggehen aus immer wieder neuen Gesichtswinkeln und Erlebensweisen beleuchten. Der Weggang war so abrupt gewesen, dass er nachträglich viel Zeit brauchte, um sich selbst zu verstehen.
Wir ermessen die inneren und äußeren Aspekte eines frei gewählten Beendens. Wir können uns fragen, wie freiwillig und freiheitlich ein Beenden ist, das intuitiv und impulsiv gewählt wird und erst im Nachhinein in vielen verschiedenenSchritten nachvollzogen werden kann. Entscheidend scheint jedoch das, was Gregorius selbst schildert: es ist die neue Art, in der Welt zu sein, die neue Wachheit, das Gefühl, zum ersten Mal das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. »Es ist genug« – das ist in diesen beiden Beispielen ein Beenden eines Unbehagens und einer zunehmenden Fremdheit, die lange nicht eingestanden werden können. Die Macht der Gewohnheit wirkt beharrlich. Doch schließlich spürt Serena, dass sie sich verabschieden kann. Demgegenüber geht Gregorius unvermittelt, ungeplant, abrupt und ohne Abschied – weil er es sonst nie geschafft hätte zu gehen.
Es ist genug: Es geschieht in Gruppen, in Freundschaften, dass eine Person sich verabschiedet. Sie hat genug. Und diejenigen, die weiter bleiben, sind möglicherweise vor den Kopf gestoßen, fühlen sich ungerecht behandelt und verlassen. Es ist immer auch eine Kunst, das eigene Weggehen-Wollen so zu erklären, dass es die anderen verstehen können. Man kann dabei sein Möglichstes tun, ohne dass es für die anderen ausreicht. Damit haben beide Seiten zu leben.
Sich binden – sich trennen
Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies, einander lassen. Denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.
Rainer Maria Rilke
Trennung ist dort möglich, wo eine Bindung besteht. In einer Beziehung kann eine Trennung von einer Seite, von beiden Seiten oder von keiner Seite angestrebt werden. Sowohl Bindung als auch Trennung übersteigen in ihrer Dramatik und Tragweite immer
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