Die Kunst des guten Beendens
Behinderungen zeigen. Das Neue ist, dass sie heute mehr und mehr darüber öffentlich reden. Sie beenden damit das Verstecken von Versehrtheit, Leiden, Not und Trauer in der Öffentlichkeit. Auch dies ist eine Einladung der Mitmenschen zu Respekt, zu Mitgefühl und Solidarität. Es kann jeden treffen.
Was hier nicht gemeint ist, ist die Art und Weise, wie die Klatschpresse die Süchte und Schwächen der Stars auf eine Weise an den Pranger stellt, dass kein Mitgefühl entwickelt werden kann. An dessen Stelle treten schamlose Neugier und ein bisschen Schadenfreude, dass das Schicksal die Reichen und Schönen auch trifft.
Öffentliche Personen bekennen sich zu ihrem Leiden. Sie stellen sich der Frage, ob sie in ihrem Amt noch tragbar sind. Immer häufiger ist auch zu beobachten, dass öffentliche Personen ihr Amt aufgeben, weil eine ihnen nahestehende Person, meist die Ehefrau bzw. der Ehemann, sehr krank ist. Das sind neue Töne in Politik und Wirtschaft. Sie künden von Liebe, Mitgefühl und Solidarität und stellen das Primat der Arbeitsgesellschaft in Frage. Sie räumen der Privatsphäre einen öffentlichen Wert ein.
Mit über achtzig Jahren hat der Sozialphilosoph André Gorz einen öffentlichen Brief an seine Frau D. geschrieben. 45 Er fragt sich darin, weshalb er seiner Frau keinen Platz eingeräumt hat in seinen vielen Werken und weshalb er sie verzerrte und entwertete, wenn er von ihr sprach – war doch ihre Liebe für ihn das Wichtigste in seinem Leben, das ihm überhaupt den Mut gab zu leben. Sie waren beide Heimatlose.
Gorz hatte Prinzipien. Privatleben und Heirat verkörperten für ihn bürgerliche Werte, die es zu bekämpfen galt. D. lehrte ihn, dass sie in ihrer Liebe das sein würden, was sie aus sich machten. Sie unterstützte und liebte sein Schreiben. Sie tolerierteden Widerspruch, dass sein Werk eine Weigerung war, die Realität zu akzeptieren, und dass ihre Liebe in ihm den Wunsch erweckte, zu leben. Es war Gorz damals nicht möglich, über die Liebe zu schreiben. Lieben war ihm zu banal, zu privat, zu gewöhnlich. Er liebte seine Liebe nicht. Er lebte sie, und in seinem Leben war sie das Wichtigste. Aber sein Leben und sein Schreiben lagen weit auseinander und ließen sich nicht vereinbaren.
Erst mit über achtzig Jahren, ein Jahr vor dem gemeinsamen Selbstmord im Jahr 2007, schreibt er die Liebeserklärung an seine Frau. Nach dieser Liebeserklärung lebt er in der Liebe und schreibt weiter; die Integration scheint gelungen. Indem er dies öffentlich sagt, anerkennt und würdigt er das Private, die Liebe und die überragende Wichtigkeit der geliebten Frau in seinem privat-öffentlichen Leben. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Gleichwertigkeit von privat und öffentlich, von Liebe und Leistung, von Frau und Mann.
Die unaufhaltsame Beschleunigung unseres Lebens
Die heutigen Menschen fühlen sich einsam,
weil sie so beschäftigt sind.
Dalai Lama
Unser Leben beschleunigt sich – unaufhaltsam. Wir haben uns dieser Wirklichkeit zu stellen. Es gibt interessante und informative Literatur darüber, wie es so gekommen ist und was uns weiter erwartet. 46 Zeit und Muße sind zu einem kostbaren und knappen Gut geworden. Technik, insbesondere die digitale, verändert das Sehen, Hören und Reagieren, hat Folgen für die Ästhetik und für die Emotionen, das Erleben. Im Gegenzug wird auch die Langsamkeit beschworen. »Auszeit« (aus der Zeit heraus) wird zum Zauberwort; die Seele soll baumeln. Wo und wie denn? Hinzu kommt, dass zunehmend mehr Menschen von diesem Tempo überfordert sind.Burnout als Ausdruck subjektiven Leidens scheint eine Antwort darauf zu sein. Burnout als heutiges Lebens- und Arbeitsrisiko?
Wie hängen diese Entwicklung und die Fähigkeit zu beenden zusammen? Beenden als Abschiednehmen und Betrauern braucht seine Zeit. Be-enden bedeutet, einen Prozess bis zum »Ende« zu gehen. Die Zeit dazu ist heute oft nicht gegeben. Das Neue klopft bereits an die Türe oder steht bereits im Raum. Beenden droht in der beschleunigten Zeit zum Abbruch zu werden.
Neben der unaufhaltsamen Beschleunigung nimmt auch die Tendenz der immer stärkeren Programmierung bisher natürlicher Wachstumsprozesse zu. Ein Beispiel: Bei Schwangerschaften kann das Geschlecht des Kindes schon früh bestimmt werden. Während der Schwangerschaft kann so präzis wie noch nie zuvor die Entwicklung eines Kindes verfolgt und die Schwangerschaft allenfalls abgebrochen werden. Der Termin des gewünschten
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